El Diario,  Europa,  EuroVelo,  Jakobsweg,  Radreise,  Reisen

Ein neuer Weg – Part II

Gliederung

„Rutas el mundo en bici“ – Freitag, 02. Februar 2024

08:38 Uhr – Biblioteca de San Francisco
Endlich befinde ich mich in Spanien. Ich bin froh, heute einen Ruhetag zu haben, etwas entspannen und die Stadt per Pedes erkunden zu können. Wenn es hochkommt habe ich seit Marseille gute 30 Seiten geschrieben. Aber glaube ich an meinen Traum von Santiago de Compostela? Glaube ich an meinen Traum von “Perpetuum Publishings”? Ich habe die Kopfhörer aufgesetzt und höre meine “Mix der Woche”-Playlist. Meine Beine brauchen eine Pause. Mittlerweile sind es knapp 880 Kilometer und 11.030 Höhenmeter. Mein Gesäß ist wund, mein Fahrrad steht in der Unterkunft “Jesus y Maria”. Was mache ich aus meinem Leben?  Auf welchen Pfaden wandle ich? Nicht immer sind die Zeichen so offensichtlich wie auf dem Jakobsweg. Ich sehe es vor mir das Buch “Ein neuer Weg”. Wir könnten die Welt verändern. Wenn wir den Mut dazu hätten. Im Angesicht des Wandels wirst du dir früher oder später die Frage stellen müssen, wer du bist. Sicherlich mag ich nicht die “gewöhnliche” Kleidung eines Schreibenden tragen. Aber wer definiert diese? Wer setzt sie die Regeln? Morgen werde ich Ma. hier begegnen. Nicht in Barcelona, nicht im Remstal, nein in Navarra. Der Himmel ist aufgeklart, das Blau zeigt sich, von der Sonne beschienene Wolken ziehen vorbei. An meinem Geburtstag werde ich an meinem vorläufigen Ziel sein. Doch danach folgen Portugal, Südspanien, Marokko, Barcelona, Andorra und Toulouse. In welche Richtung steuere ich? Welche Form gebe ich meinen Träumen?

Das Jahr ist bereits schon ein gutes Stück fortgeschritten. Aber was bleibt von der Energie, die uns einst antrieb? Unzählige Punkte habe ich noch auf meiner Liste, doch was sind sie wert? Was ist das Glück wert, wenn du es nicht teilen kannst? Was ist dein Handwerk von Bedeutung, wenn du damit keine Menschen erreichst? Vor ein paar Tagen auf der Straße wurde ich mir gewahr, dass mein Fahrrad mein Werkzeug ist so wie der Füllfederhalter. Es ist meine Machete, meine Motorsäge, meine Leinwand, mein Traktor und mein Lastkraftwagen, mein Besen und mei Wischmop, mein Instrument samt meinem Kochtopf. Auf dieser Tour werde ich mir gewahr wer ich bin und wer ich hätte sein können wenn die Umstände andere gewesen wären. Mir wird vor Augen geführt, wie wichtig es ist, jeden Morgen aufzustehen und weiterzugehen. Sicherlich, im Alltag können wir nicht immer auf einer äußeren Ebene weitergehen. Wir können und müssen nicht immer über unsere körperlichen Grenzen gehen. Aber wir dürfen uns nach jeder Nacht erneut unter Beweis stellen, wir müssen den Erfolg jeden Tag erneut umarmen und annehmen, wir dürfen die Hände ausbreiten und all die Chancen ergreifen. Gestern wurde ich mir bewusst, was meine Funktion auf dieser Erde ist. Zumindest ein kleines Bisschen. Mit dem Fahrrad bin ich in einer anderen Geschwindigkeit unterwegs. Der Mensch erschuf den TGV, der mit 314 Sachen gen ältester Stadt Frankreichs braust, er erschuf die Überschallflugzeuge, baute Raketen und Drohnen. Er ist ein Übermensch geworden. Doch nur im Herzen können wir wahrlich wir selbst sein. Nur mit unseren Füßen können wir auf dem Boden stehen. Aus eigenem Antrieb müssen wir Dinge bewegen. Unsere Kraft kann Berge versetzen und Wasserflächen teilen. Unser Glaube kann ermächtigen und heilen, beflügeln und verzaubern. Unsere Imagination ist der Schlüssel zum Paradies, denn sie entführt uns in neue Welten und lässt uns alles im Geiste erschaffen. Eventuell bin ich schon längst angekommen. Meine Intuition trügt mich nicht und hat mich noch niemals betrogen. Von Spanien oder Portugal wäre es nicht mehr allzuweit bis nach Brasilien. Immer wieder wabert sie die Verbindung zwischen den Kontinenten in meinem Innen, verzaubert und verhext mich, täuscht und verleitet mich. Doch mit einem jedem weiteren Kilometer der vergeht erkenne ich, dass ich mir treu bleiben muss, dass ich meinen eigenen Weg gehen muss. Es gibt nicht den perfekten Weg. Jeder hat seinen eigenen Weg. Niemals gibt es ein Zurück. Doch du musst mit deinem Ursprung stets in der Verbindung bleiben, sonst entfremdest du dich von dir selbst. Christoph ist jetzt wieder in Lourdes, Paul, Juan und Thomas sind vermutlich irgendwo zwischen Roncesvalles und Zubiri. Gehen sie alleine oder zusammen? Die aus Pamplona streben vor Anbruch der Dunkelheit gen Puente la Reina. Doch was suchen sie, weswegen zogen sie los, was werden sie finden auf ihren Wegen? Argentinien, Ecuador, Italien (südlich des Gardasees und eine Stunde östlich von Rom), Österreich (Burgenland), Frankreich (ehemals Lille nun Lourdes) und Spanien (Girona) sind die Leute, die ich bislang kennenlernte. Nicht zu vergessen Südkorea. Stets erhältst du, was du brauchst um zu lernen, um tiefer ins Bewusstsein zu rücken und die Erleuchtung zu erhalten, die für dich im gegenwärtigen Moment bestimmt ist. Blicke nicht auf die Wege, die die Anderen gehen. Wenn du zu viel nach links und nach rechts gehst kann es schnell geschehen, dass du über eine Wurzel stolperst oder dich mit den Gedanken quälst, an einer vorherigen Weggabelung in die falsche Richtung gegangen zu sein. Doch du befindest dich stets wo du bist aus einem gewissen Grund. Dein Herzschlag für die Ewigkeit. Dein Atem Zeuge der Vergänglichkeit. Wie ich gestern nach dem Anstieg auf den Ibañeta-Pass vor dem Wind geschützt in einer kleinen Kuhle auf der Erde am Rolandsdenkmal saß, eine Karotte mit Ziegenkäse aß, kam ein niederländisches Ehepaar mit Fernglas und einem Vogelführer, in der Höhe über unseren Köpfen flog ein roter Milan und dann gäbe es noch die Bartgeier: “Los Quebrantahuesos”, jene, die die Knochen brechen – meinten sie. Wenn ich mich recht entsinne können sie bis zu fünf Kilometer hoch fliegen und sich dann auf am Boden befindliches Aas stürzen.

10:20 Uhr
Nun hat sie mich wieder übermannt die Angst, ich muss auf die Toilette, doch ich kann nicht aufstehen, kann nicht gehen, kann mich nicht bewegen, bin bewegungsunfähig. Gerne würde ich mir ein Buch aus dem Regal über die Landschaften des Camino del Norte, über die portugiesische Küste oder Frankreich aus dem Regal holen und durchblättern, aber es geht nicht. Noch nicht.

11:00 Uhr
Und wieder ist es da das Gefühl, dass da noch mehr sein könnte in diesem Leben. Was schrieb Hemingway exakt über Pamplona? Vor mir liegt das recht dicke Buch “Rutas el mundo en bici”. Was halten sie bereit die Träume in meiner Zukunft? Was werde ich anziehen, mit wem werde ich gemeinsam Zeit verbringen, wer ist dazu bestimmt, an meiner Seite zu gehen? Das Morgen mag manchmal mystisch-trügerisch erscheinen, doch in Wahrheit sind es einzig die Nebelschleier, die das Offensichtliche verdecken. Und so kam ich aus den verwunschenen Tälern und muss mir vor Augen führen, dass ich in der Kunst meine Anziehungskraft zu perfektionieren weiter voranschreite. Mein magisches Seil ist die Anbindung an die höhere Ebene, mein Anker ist der Glaube, der sich weit jenseits des Tatsächlichen bewegt. Du wurdest geboren als unwissender Körper, erhieltest sie die Erkenntnis auf deinem Weg, fandest Antworten und beendetest das unendliche Puzzle. Und da brach sie durch die Sonne durch die Wolkendecke um die Oberfläche zu verhexen. Gemeinsam Zeit mit ihr verbringen, das ist es, was ich möchte, das ist was ich bin und seit jeher war, das ist Aufgabe und Bestimmung meines Selbst zugleich. Daher kam ich und dorthin gehe ich, trage die Siebenmeilenstiefel, verzehre mich nach Mystik und Schnee. In der Halle der Legenden stehen nicht viele an den Tagen, da das Natürliche überflüssig geworden ist – denn Maschinen übernahmen unsere Arbeit, vergegenwärtigten uns im Prinzip, wer wir hätten sein können, ließen uns formen aus dem seichten Grund, zu kontinuierlichen Höchstleistungen auflaufen und erstarren vor Ehrfurcht unter dem Firmament der Millionen von Sternen. So komme zu mir stets Inspiration du, führe mich in der Dunkelheit und schütze mich, wenn die Not es erfordert. Ich atme ruhig ein und aus, mein Körper ruht auf dem Stuhl, meine Füße verwurzelt mit der Erde Navarras. Mein Herz, das schlägt, mein Segen auf ewig, mein Reich wird eines Tages kommen, denn ich fing an und werde niemals wieder aufhören. Denn es sind die Verrückten, denen die Welt gehört, es ist das Unbekannte, das uns Kraft gibt, es ist das Finale, das uns singt den neuen Anfang zu beginnen. Weit breite ich sie aus meine Arme, öffne mein Herz, lasse mich fallen in der Güte deines Selbst, im Erfordernis mich stets aus der Schale meines alten Ichs zu schälen, indem ich mich der Handreichung eines Größeren übergebe. Und so wie ich hier in der Bibliothek am Plaza San Francisco sitze, denke, fühle, sehe, meine zu erkennen, da werde ich mir bewusst, dass alles so kommen musste.

11:23 Uhr
Klar kann es sein, dass ich genau an diesem Platz sitzen muss, bis ich alt und grau werde – dann soll es allerdings so sein.

Neben mir sitzt eine Frau, die vor sich ein Buch mit dem Titel “La Biblia – Palabra de Dios” liegen hat. Was werden die Tage mit Ma. bringen, was wird am Ende dieser Reise sein, welcher Mensch werde ich schließlich sein, wo werde ich wohnen, wie werde ich meine Zeit gestalten, auf was werde ich meine Aufmerksamkeit richten? Quito, wie weit bist du nun entfernt, lässt du mich im Stich oder erlöst du mich von all meinem Schmerz? Versorgst du mich mit Kraft und Energie, lässt du mich schöpfen aus unergründlichen Quellen, aus der Tiefe der Essenz?

14:33 Uhr
Im Sonnenschein sitze ich auf dem Platz vor dem Picasso-Café, ich lese “Der Weg in den Kosmos” von Gagarin, ich befinde mich auf dem Jakobsweg, ich darf mein Ziel nicht aus den Augen verlieren. Das Gute wird sich unweigerlich vom Schlechten trennen, daran führt kein Weg vorbei – Gott ist der Richtende, der Wind ist der Weiser, dein Schatten Anker um weiter ins Zentrum zu finden. Wieder kommen und gehen Menschen, ein Auto fährt die Gasse entlang, die Geräusche der Reifen auf den Pflastersteinen beim Fahren sind schwer zu beschreiben. Sète mit der Exodus ist weit entfernt, jede Reise ein neues Abenteuer, eine neue Welt, ein unbekannter Weg in die Zukunft. Wir dürfen uns nicht der Illusion einer Bequemlichkeit hingeben, ständig befindet sich alles im Wandel, plage dich nicht mit dem vermeintlich Gewöhnlichen, denn sonst hast du keine Gelegenheit mehr, um dich auf das Schaffen zu konzentrieren. Ist es relevant, ob man dich als komischen Kautz oder gar als Sonderling bezeichnet? Wohin ziehst du? In welche Richtung bewegst du dich? Was treibt dich tief im Innersten an? Woraus schöpfst du deine Kraft? Was verleiht dir Flügel? Wem vertraust du dich an? Was betest du? Was wünschst du dir am sehnsüchtigsten? Wer ist Gott für dich? Wie viele Schritte wirst du noch gehen? Was sind deine Zwischenstationen? Auf welche Bank setzt du dich am Wegesrand? In welcher Tätigkeit kannst du dich verlieren? Wie füllst du deine Energie wieder auf? Was siehst du? Was liebst du? Wen führst du und leitest du? Welches Lied singst du? Streichelst du die Katzen am Wegesrand? Nimmst du das nicht Offensichtliche wahr? Folgst du jemandem? Bist du Orientierung oder Leuchtturm? Wo nächtigst du? Was ist sie diese Reise für dich? Kannst du schlichtweg genießen die irdischen Freuden und Güter ohne dich dafür zu verdammen?

18:53 Uhr
Den zweiten Abend befinde ich mich in der Unterkunft „Jesus y Maria“ in Pamplona. Es ist eine besondere Stimmung hier, ich weiß nicht exakt, wie ich den Geist in Worte fassen soll. Die Spiritualität ist hier gegenwärtig, das Zeitlose ist sehr präsent.

Nicht immer gibt es Tage wie diese. Draußen scheint die Sonne, Pamplona ist eine einzigartige Stadt, definitiv nicht Barcelona, anders, vielleicht rauer, vielleicht das spanische Berlin. Morgen werde ich Ma. treffen, wir werden gemeinsam eine Woche Zeit verbringen, ich bin gespannt, was wir gemeinsam machen werden, wie es für mich weitergeht, was unsere gemeinsame Zukunft macht und in welche Richtung wir uns jeweils bewegen werden. Von was ist es letztlich abhängig? Ich weiß es nicht, doch mehr und mehr spüre ich, dass der Glaube an Gott und das bedingungslose Vertrauen an das Universum und alles was damit zusammenhängt grundlegend ist um zu leben, um über sich selbst hinauszuwachsen und sich als ein wichtiger Bestandteil des immensen komplexen Wirkungsgefüges zu begreifen und zu erleben. Wie viele Menschen hier wohl schon ein- und ausgingen? Wie viele gingen über den Jakobsweg? Was treibt letztlich jeden Einzelnen an? Wird Christoph aus Lourdes eines Tages bis nach Spanien weiterlaufen? Welche Gedanken verfolgen jeden Einzelnen in der Dunkelheit und Abgeschiedenheit? Worauf richten wir unsere Aufmerksamkeit und Blicke? Was sehen wir, wenn das Licht gerade schwach ist? Wirke und denke ich auf einer Ebene mit Viktor Frankl, mit Jiddhu Krishnamurti, mit Hesse und Einstein? Was schrieb Hemingway in nächster Nähe? Was mache ich aus meinem Leben? Wie grundlegend ist mein Glaube?

Ich denke immer stärker daran einfach weiter mit dem Fahrrad zu fahren. Es bereitet mir Freude, es bedeutet für mich Freiheit, ich fühle mich mit ihm verbunden. Gleichzeitig hält und stützt es mich, es gibt mir Kraft und versorgt mich mit der Gewissheit, dass ich immer weiterziehen kann. Mir ist es unglaublich wichtig, das Neue und Unbekannte zu erkunden. In mir schlummert dieser Geist, der nur in der Bewegung nach Vorne gestillt werden kann. Jeder hat diese Sehnsucht in seinem Selbst, jeder findet die Antworten auf all seinen Schritten. In der vergangenen Nacht waren deutlich mehr Pilgernde hier, jetzt sind es wenn es hochkommt 40 oder 50 Prozent der Anzahl. Ich habe viel Hunger, der Ruhetag tut mir gut, ich aß am Morgen Porridge, dann vorhin Nudeln mit Tomaten und zwei Knoblauchzehen, Datteln, einen Apfel und einen Müsliriegel. Drei Stunden und 30 Minuten befand ich mich in der Bibliothek, die Zeit verging wie im Flug und gleichzeitig kommt sie mir bereits auch schon wieder Ewigkeiten her vor. Ein Wunder, dass ich gestern erst in Frankreich gewesen bin. Ich habe mir eine zweite Radhose gekauft, meine Wäsche gewaschen, mein Fahrrad geputzt und geölt, den Schlauch am Vorderrad gewechselt und viel in Juri Gagarins Buch gelesen. Ich schöpfe noch einmal Kraft, bevor es weiter geht nach Santiago. Und innerlich bereite ich mich auf Portugal vor, auf Marokko und dann auf die Achse zwischen Barcelona und Stuttgart. In der E-Mail der ECF las ich einen Artikel eines Mannes, der von Madrid bis nach Trontheim mit dem Fahrrad fuhr.

Ich spüre, das ich mehr Zeit in der Natur verbringen möchte, dass es mir wichtig ist, ein Lagerfeuer zu machen und an der frischen Luft zu kochen. Wo ich einst wohnen werde? Das ist mir immer noch ein Rätsel. Gestern kam ich auf dem Ibañeta-Pass an einem Earthship mit schön angelegtem Garten vorbei. Das könnte ich mir gut vorstellen. Vor ein paar Tagen sah ich zwei Mitte oder Ende 30-Jährige, die auf einem Grundstück ihr eigenes Holzhaus bauten. Direkt hinter der Grundkonstruktion stand ein recht alter Bauwagen – hinter einer Plastikplane eine provisorische Dusche. Braucht man mehr im Leben? Was sind letztlich die Ansprüche und wer bestimmt sie? Muss man sie selbst bestimmen oder wurden sie einem einst indoktriniert? Hier kostet ein ausgezeichneter Cappuccino 1,40 Euro.

„Der Weg in den Kosmos“ – Samstag, 03. Februar 2024

11:17 Uhr – Civican Public Library
Seit guten drei Stunden bin ich auf den Beinen. Die Stadt gefällt mir, zwei Cafés habe ich ausprobiert, in dem ersten fühlte ich mich fehl am Platz, wenngleich es dort am ursprünglichsten war. Ich treibe gleich der schwarzen Boje im Pazifik vor Lima immer noch leicht verloren umher, lese weiter Gagarin, warte auf Ma., wärme mich in öffentlichen Gebäuden und blicke stärker in die Zukunft. Heute wurde mir dieses Gefühl der Sehnsucht sehr stark bewusst, wie all die anderen Pilgernden an einem weiteren Morgen aufbrachen, teils bereits um 05:00 Uhr aufstanden und vor Anbruch der Helligkeit in die frische kühle Luft Spaniens traten. Von Martina verabschiedete ich mich als letztes. Ich fragte sie, ob ich sie zum Abschied umarmen dürfte. Sie kommt aus Italien und startete ihre Tour in Toulouse. Sie hat ein Fuji-Gravelbike mit Rahmen- und Satteltasche. Des Weiteren einen Rucksack, GPS-Navigationsgerät und verdammt viel Ausstrahlung. Sie wird vermutlich 1,60 Meter groß sein, doch sie ist ein wahres Kraftpaket und Energiebündel. Es ist ihre erste lange Reise auf dem Sattel. Ich fragte sie, ob es nicht merkwürdig sei, diesen Camino nicht zu Fuß zu bestreiten. Sie meinte, es sei nicht ihr Naturell in ihrer gegenwärtigen Lebensphase gemeinsam mit den Anderen in der Gruppe all die Etappen zurückzulegen, nein, sie sei da eher unabhängiger, freier, glücklicher, neue Menschen kennenzulernen. Sie sprach mir aus der Seele. Den Artikel des Inders Rohan Daniel, der mit dem Fahrrad von Madrid bis nach Trondheim fuhr, laß ich am Morgen zu Ende. Mir gefällt das Zitat von Nietzsche: „What, if some day or night a demon were to steal after you into your loneliest loneliness and say to you: ‘This life as you now live it and have lived it, you will have to live once more and innumerable times more; and there will be nothing new in it, but every pain and every joy and every thought and sigh and everything unutterably small or great in your life will have to return to you, all in the same succession and sequence-even this spider and this moonlight between the trees, and even this moment and I myself. The eternal hourglass of existence is turned upside down again and again, and you with it, speck of dust!‘

„Would you not throw yourself down and gnash your teeth and curse the demon who spoke thus? Or have you once experienced a tremendous moment when you would have answered him: ‚You are a god and never have I heard anything more divine.‘ If this thought gained possession of you, it would change you as you are or perhaps crush you. The question in each and every thing, ‚Do you desire this once more and innumerable times more?‘ would lie upon your actions as the greatest weight. Or how well disposed would you have to become to yourself and life?“

Es sind sehr komplexe tiefsinnige Sätze. Aber warum nicht? Wir alle leben auf diesem Planeten mit einer Bestimmung, mit einer Aufgabe, mit einer Berufung in den tiefen Kammern unseres Herzens, derer es Ausdruck zu verleihen gilt. Die einen steigen dafür in Raumanzüge, die anderen gehen Tag für Tag in Bibliotheken, auf ihren persönlichen Camino, in die kalte mit Nebelschleiern behangene Luft, in die ungezeichnete Weite der beizeiten wahnsinnigen Welt. Sie alle finden ihre Augen von der Erkenntnis des Inhalts und des Warums erleuchtet, sie sind dazu bestimmt, ihr persönliches Glück zu teilen, ihre Maxime zu einem Zeichen für weitere Seele zu erheben. Auf der Reise findest du dich unweigerlich, denn du verlässt den sicheren Hafen, du darfst dich aufmachen um dich selbst in einem neuen Licht kennenzulernen, um der zu sein, der du in deinem wahren Kern bist. Müde bin ich zu lesen, so muss ich schreiben, dieses Jahr 2024 war bislang kein Paradejahr was das Schreiben anbelangt. Aber es ist ein Teil des Prozesses. Jeden Morgen wachst du auf erneut, jeden Morgen hast du die Chance erneut dein Leben auf den Prüfstand zu stellen, dich zu hinterfragen, über dich hinauszuwachsen, an der Stelle da du dich befindest zu verwurzeln und schlichtweg in der vollkommenen Annahme dessen was ist zu sein um aufzugehen in dem Moment. Wir alle tragen unsere Lasten und Pakete. Es geht nicht darum zu teilen wie schwer deine sind, sondern darum den Weg angenehm und erträglich zu machen, immer wieder aus der Seele zu lachen und offenen Herzens den weiteren Herausforderungen zu begegnen. Du wirst letztlich gewinnen. Das verkünden die Bücher im Regal, das verkünden die anderen an deinem Tisch, das verkünden die Weggefährtinnen und Weggefährten, das verkünden die Pfaue und die Rehe. Das ist es was der Inhalt ist, was das Fundament darstellt, was Gott meinte als er sagte: „Ich bin und so sollt ihr sein.“ Alles kommt zu seiner Zeit. Dafür bedarf es bedingungslosen Vertrauens und Glaubens.

Mir fehlt sie die Bewegung, mir fehlt das Verlassen eines Ortes in Richtung des Unbekannten. Mir fehlt mein klarer Anker. Zu lange trieb ich verloren umher, machte mich zum widerspenstigen Handlanger anderer, ging ohne Ahnung wohin und wieviel. Aber ich fand auf meinem Weg, ich meinte oft aufgeben zu müssen doch erhielt exakt in jenen Passagen eine beinahe übermenschliche Energie, die mich zu einer neuen Perspektive brachte.

12:23 Uhr
Immer weiter sprudelt es aus mir heraus das Buch. Ich weiß nicht, in welche Richtung es mich führen wird. Ich weiß, dass mich mein räumlicher Weg auf dieser Ebene zunächst nach Santiago de Compostela führen wird. Ich weiß, dass ich meine Cusco-Umhängetasche mit dem Tintenfass und den zwei Füllfederhaltern bei mir trage. In meinen Büchern befindet sich das Pferdehaar-Lesezeichen aus Quito, gegenwärtig schreibe ich in Notizbuch no. 60. Ich weiß, dass ich zwei gesunde Beine habe, die diesen Planeten noch deutlich weiter bereisen werden. Ich weiß, dass ich niemals müde werde für das Gute zu kämpfen (ergo zu schreiben), dass es meine Aufgabe ist, des Morgens auf diesem sich kontinuierlich drehenden blauen Planeten aufzuwachen, zu glauben, zu finden und zu einen. Denn wir alle kamen aus einem bestimmten Grund, wir alle fanden einst, wir erkannten und wir ließen sie sprießen die Liebe aus unserem Selbst. Wir sind unweigerlich alle miteinander in Verbindung. Es gibt kein Zurück. Die Entwicklung der Neuzeit ist die Verbindung von Mensch und Maschine. Wir sind die wahre Intelligenz abseits der Oberflächlichkeit. Wir sind zarte sensible empfindsame fühlende Wesen. Wir sind die Gigantinnen und Legenden im Verborgenen. Wir schöpfen unsere Kraft aus der Stille, wir sehen was noch nicht manifestiert ist, wir zeichnen die Konturen auf den Leinwänden der ungeahnten Kraft der Bilder, die wir im Träumen fanden. Wir sind verantwortlich für das Morgen. Mit jedem Wimpernschlag leisten wir Pionierarbeit, wir dürfen niemals das Eigentliche aus dem Blick verlieren. Wir gehen um anzukommen – wenngleich wir bereits aus diesem Grund längst angekommen sind.

20:18 Uhr
Das dritte Mal in Folge schlafe ich nun in der Unterkunft “Jesus y Maria”. Hier befindet sich ein besonderer Geist. Die Menschen kommen jeden Tag ab 12:00 Uhr mittags und brechen am nächsten Tag zwischen 07:00 und 08:00 Uhr wieder auf. Teilweise auch früher. Der Weg scheint ein Allheilmittel zu sein. Jeder hat seine Gründe, seine Probleme, seine Verluste, seine Süchte, seine Ängste, seine Zweifel für diese Reise. Gleichzeitig befindet sich jeder unter diesem größeren Schutzschirm, wird geleitet, geführt und begleitet auf seinem Weg wenn er sich verloren fühlt oder meint, nicht mehr alleine aus eigener Kraft weiterzukommen. Jeder Einzelne ist ein unglaubliches Kraftwerk und Impulsgeber, ein Leuchtturm und eine Quelle der Inspiration. Wir hängen alle gemeinsam mit zusammen. Ein Wenig ist es wie auf der Arche Noah im Zentrum Bogotás nur tragender und magischer. Unweigerlich muss alles einen Sinn ergeben. Jetzt wird er mir bewusst der Traum der vergangenen Nacht. Ich kann mich weder an ihn noch an die Details erinnern, doch ich kann mich an das atemberaubende Gefühl erinnern. Wir werden alle getragen und geführt. Egal wie alt wir sind, wo wir herkommen, welche Leiden oder Nöte wir haben, wie sehr unser Herz zerbrochen sein mag oder wie groß unser Problem auch ist – es gibt einen Weg dahinaus. Und das Ziel ist Santiago. Es ist möglicherweise das größte Geheimnis der Menschheitsgeschichte. Jede Seele wandelt vor und nach Sonnenaufgang, vor und nach Sonnenuntergang, im Reich Gottes. Unsere Füße hinterlassen Spuren auf dem Planeten selbst wenn wir die Schritte “nur” im Geiste gehen. Doch diese Arbeit ist ein wahres Wunderwerk unseres Schöpfers. Diese Arbeit ist zeitlos. Sie stellt das Fundament dar auf welchem unsere Kinder und Enkelkinder und alle Generationen, die uns folgen werden, bauen und leben werden. Wir sind die Wegbereitenden für die Zukunft. Wir sind der Schlüssel zum Glück. Die finale Antwort ist die Liebe. Unser Herz ist der Kompass der Wahrheit. Wir sind die Kinder des Glücks und die Hüter der Weite. Wir sind Santiago. So liege ich also im Bett no. 91, Ma. unter mir im Bett no. 92, unsere Herzen schlagen im gemeinsamen Takt, unsere Fingerkuppen verschmelzen und unsere Träume fliegen auf einer synchronen Frequenz. In diesen Tagen begreife ich ein weiteres Mal, dass ich zum Fliegen bestimmt wurde. Nicht immer hast du es in der Hand, wohin du gesetzt wirst, doch immer hast du es in der Hand, in welche Richtung du schaust, in welche Richtung du gehst und mit welcher Einstellung du den Herausforderungen des Tages begegnest. Myriaden von unsichtbaren Strängen durchziehen uns, flechten sich durch unsere Zellen und verleihen uns den finalen Feinschliff. Für die einen stellt jener die Göttlichkeit dar, für die Anderen bedeutet er wahrlich Mensch sein. Den Gezeiten sind wir alle ausgesetzt. Im Regen beginnt die Sonne in Gänze zu strahlen.

„The Camino del Norte“ – Dienstag, 06. Februar 2024

Zwischen 21:00 und 22:00 Uhr – Blai Blai Hostel Zarautz
Nun endlich etwas Pause am Meer in Zarautz. Vor mir liegt “The Camino del Norte”. Der Weg heute war nicht unbedingt sehr lang vom Monte Ulia ab der Jugendherberge bis zum Yellow Deli-Restaurant, doch sehr schön. Erst nach 10:30 Uhr verließen wir unser Appartement no. 7 der Liebe, frühstückten Porridge mit fein geschnittenen Bananen und Äpfeln im Speisesaal oder Aufenthaltsraum und gingen dann (nachdem wir den Windhund Siku ausführlich gestreichelt hatten) auf der Straße zunächst leicht bergab und dann links auf einen kleinen schmalen Fußpfad in Richtung Donostia. Unterwegs blieben wir stehen um die zwitschernden Vögel zu bezeugen oder Bananenstauden (Ecuadorerinnerungen!) zu begutachten. Dann waren wir auch schon wieder mitten in einer Großstadt, raus aus der Ruhe und dem Frieden der Natur, raus aus der Zeitlosigkeit und hinein in die Welt der Ampeln, der fahrenden Autos, der Lenkungen und Versuchungen. Am Royal Nautical Club of Donostia-San Sebastián trafen wir auf einen Freund von Ma., wir gingen in das Sakona Coffee Roasters Café, ich trank einen Cortado mit Hafermilch und aß einen Bananen-Schokokuchen (vegan), wir unterhielten uns (beziehungsweise ich hörte zu), verließen dann gegen 13:30 Uhr das feine Lokal durch Seitenstraßen bis zum Playa de la Concha um all die Ausblicke zu bestaunen, den Wellen zu lauschen, Surfer, Sand, Architektursilhouetten, Leuchttürme – alles mit dabei. Dann gingen wir zu all den Kunstwerken im öffentlichen Raum von Eduardo Chillida angefangen mit “Homage a Fleming” zu “Estela a Rafa Balerdi” bis hin zu “Peines del Viento XV”. Den Camino mit den gelben Pfeilen verlor ich nicht aus den Augen – ich spürte es in mir ziehen, ich wollte den Zeichen weiter folgen, doch wir standen am Ende des Weges bei der Brandung, die Gischt und das Wasser schossen in die Höhe, es wurde geredet und ja, irgendwann ging es dann weiter. Es war der späte Nachmittag, auf der Strecke bis nach Zarautz sollte es nicht viele Unterkünfte geben, aber wir gingen drauf los in Richtung des Unbekannten. Vor einem Hochhaus mit Swimming-Pools rasteten wir, aßen 1,5 Arepas mit Linsen und Gemüse vom Vortag, tranken und genossen die Sonne. In unseren Gliedern noch die Strapazen des vorigen Tages. Es war okay, so wie es vermutlich hätte sein müssen – das Paradies auf Erden, aber ich schien es nicht wahrzunehmen. Dann der Weg – erst parallel an einer Straße leicht bergauf – zu der rechten Seite der bis zum Horizont reichende Arm des Meeres, dann unendlich viele Impulse für die Seele, für dieses Geheimnis des Lebens, für dieses Alles und Nichts. Viel dachte ich darüber nach welche Unterschiede es zwischen dem Radfahren und dem Wandern gibt und ob das wahre Pilgern nicht doch das Gehen darstellt. Aber ich wusste es nicht abschließend, hatte “nur” immer wieder den Impuls einfach bis nach Santiago weiterzulaufen, mein Fahrrad den Fügungen des Universums anzuvertrauen und schlichtweg zu sein. Aber tut es etwas zur Sache? Das Leben spielt einem immer wieder Streiche, in welche Richtung soll man gehen, ja, in welche Richtung soll man gehen? Wie viel darf man Gott anvertrauen oder wie viel kann man ihm gar nicht anvertrauen? Wieder Fragen über Fragen über Fragen.

ZAP-BOOK – 100% Recycled / ‚La petite voice‘ – Mittwoch, 07. Februar 2024

08:33 Uhr – Zarautz
Zarautz mit dem größten Strand im Baskenland, jeden Sommer gibt es hier Surfwettbewerbe und aller Voraussicht nach ist die Stadt sehr von Touristen und Sporttreibenden bevölkert. Ich freue mich sehr auf den Tag, viel Zeit werden wir am Wasser verbringen, es ist Segen für meine Seele, ich gehe auf und fühle die Geborgenheit. Ich trinke Kaffee, wir aßen die vier Stücke des “Yellow Deli”-Muffins und unterhielten uns mit Kristia aus Brest. Sie ist mit ihrem Auto an der Küste unterwegs, wir sind alle mit unseren Rucksäcken an den Küsten dieser Welt unterwegs. In unserem Zimmer hat ein Surfer geschlafen, das Brett liegt auf dem Boden, er ist braungebrannt und hat lange Haare.

Deba – Donnerstag, 08. Februar 2024

Neu gestaltete Querungsmöglichkeit für zu Fuß Gehende in Itziar

18:08 Uhr – Deba
Der Wind bläst und die Nase läuft.

„Eternal Love“ – Freitag, 09. Februar 2024

Ich wünsche mir, dass Pamplona nicht zu meinem Santiago wird. Morgen trennen sich die Wege von Ma. und mir vorläufig wieder. Was wird das Morgen bringen? Was bringt das Jahr 2024? Wo werden sich unsere Wege in der Zukunft kreuzen? Wer bin ich in Wirklichkeit am tiefsten Punkt in meinem Innen? Wohin verschlägt es mich? Was wird nach Santiago?

Ich höre “Eternal Love” von Steve Morgan.

15:20 Uhr – Pamplona
Jede Seite ist ein neues Abenteuer. An meinem Geburtstag werde ich in Cee aufwachen, beten und einen Kaffee trinken.

Der Camino Francés – Samstag, 10. Februar 2024

15:20 Uhr (Polarsteps-Eintrag)
Am Morgen bin ich um 08:30 Uhr von dem Hostel losgefahren. Mittlerweile ist Pamplona bereits weit entfernt. Um 14:00 Uhr bin ich bereits in der städtischen Unterkunft in Estella angekommen. Recht viele Pilgerherbergen auf dem Weg haben um diese Jahreszeit noch geschlossen. Beim Frühstück wusste ich, dass ich nicht den Camino del Norte sondern den Camino Frances fahren werde. Tatsächlich weiß ich nicht so recht, warum ich diese Entscheidung getroffen habe. Aber mittlerweile fühlt es sich gut und richtig an.
Mein Bauch ist noch nicht in Gänze wieder in Ordnung. Das bereitet mir etwas Sorgen, ich möchte nicht sehr lange an einem Platz verweilen, die Ferne ruft mich, aber wie schnell und wie aufmerksam bin ich für die Kleinigkeiten am Wegesrand?

20:48 Uhr
Ich liege seit guten zwei Stunden im Bett und bin sehr erschöpft. Außer mir gibt es glaube ich noch drei oder vier andere Leute. Ich habe gegen 16:00 Uhr eine gute Portion Nudeln mit Tomatensoße und Knoblauch, einer Gurke und einem halben Baguette gegessen. Meine Beine sind müde. Ich spüre die Anstiege des heutigen Tages und die Wegebeschaffenheit. 50 Kilometer auf Mountainbikestrecken sind nicht 50 Kilometer auf der Straße. Ich habe Schwierigkeiten damit, so weit von Ma. entfernt zu sein. Ich vermisse sie, heute morgen um 08:25 Uhr haben wir uns das letzte Mal umarmt, geküsst, in die Augen geschaut, berührt, geredet. Wir haben seitdem geschrieben – aber das ist nicht das Gleiche. Die Route stellt mich auf die Probe. Ich bin froh aus Pamplona gefahren zu sein, ich dachte dort zu versacken. Jeden Morgen gibt es diese Aufbruchsstimmung. Es ist etwas Großes diese Energie zu spüren, die es auf dem Weg gibt. Sie fängt vermutlich bereits in der Nacht an, da jeder noch schläft, doch ist spätestens dann präsent, wenn die ersten gegen 06:00 Uhr aufstehen, ihre Rucksäcke fertig packen und die Unterkunft verlassen. Hier hängt ein Schild an der Türe, dass die Unterkunft zwischen 05:00 und 08:00 Uhr verlassen werden muss. Ich habe heute ein englisches Exemplar von „Vom Träumen und Wachsen“ in einem Bücherregal ohne Bücher gelassen. Vielleicht findet es ein anderer Mensch. Sieben Exemplare nahm ich mit auf diese Reise und sieben Exemplare werde ich auf dieser Reise loslassen. Soll es überhaupt sein, dass ich in Santiago de Compostela ankommen werde? Was verspreche ich mir davon? Was wird meine nächste Fahrradtour sein? Über mir steht: „Lo importante. No és el destino, és el Camino.“ auf dem Lattenrost des über mir liegenden Bettes. Viel darf ich noch lernen in diesem Leben. Gestern kam JM in die Unterkunft, gemeinsam mit Ma. gingen wir in die Markthalle in Pamplona und zum Supermarkt, es war in Ordnung, aber irgendwie fühlte sich die Atmosphäre merkwürdig an. Er kommt aus Deutschland, ich spürte, dass er sehr tiefe Themen mit sich trägt, dass es vieles gibt, was sich zwischen ihm und dem natürlichen Fluss des Lebens befindet. Ist es bei mir ähnlich? Ich war etwas froh, als Ma. und ich in ein Café gingen, und sich die Wege von JM und mir beziehungsweise uns wieder trennten. Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder Mensch ein guter Mensch ist. Trotzdem muss ich mehr und mehr lernen, auf meine eigene Stimme zu hören, es anderen nicht recht machen zu müssen und einfach ich selbst zu sein. In dem Café in Pamplona an dem Holztisch gemeinsam mit Ma. spürte ich dieses angenehme Gefühl des Lebens, des Seins, des Austausches und meines Herzens. Ich blühte auf und dachte mir, dass dieses Leben ausgesprochen schön sein kann.

Gerade habe ich ein paar Artikel über die Gemeinschaft „Die zwölf Stämme“ gelesen. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Warum werden bestimmte Gruppen durch die Medien und die Gesellschaft abgestraft? Definitiv gibt es kontroverse Punkte in der Gruppe, aber diese gibt es ebenso in unserer Gesellschaft. Vermutlich ist es nicht per se die Antwort sich abzuschotten und vor den Problemen dieser Welt in die Obhut von Gleichgesinnten zu flüchten. Aber die Menschen in der Gemeinschaft opfern sich für das Wohl ihrer Nächsten auf, sie sind tugendhaft und fleißig, herzlich und hilfsbereit. Leider ging es nicht, dass Ma. und ich am Monte Ulia oder um Zarautz bei ihnen übernachteten um sie kennenzulernen. In beiden Fällen wurde am Telefon kurzfristig die Auskunft erteilt, dass sie Grippe haben. Das Restaurant „Yellow Delhi“ allerdings war sehr lecker, die zwei Leute die ich kennengelernt habe waren sehr freundlich und offen. Sicherlich gibt es immer Schattenseiten im Leben und vermutlich bin ich manchmal zu naiv, sehe einzig das Gute und möchte das Schlechte nicht wahrhaben.

Am Mittag fuhr ich an einem Pärchen vorbei, die am Wegesrand an eine Mauer gelehnt an einem sehr schönen Ort in der Sonne saßen und aßen. Ich grüßte sie, doch da war diese merkwürdige Energie zwischen uns. Mit dem Fahrrad komme ich schneller als andere Pilger zu Fuß, manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mich auf einer anderen Ebene bewege. Viel darf ich also noch lernen. Morgen früh soll es sehr kalt werden, um die 3 Grad, vermutlich werde ich bei Dunkelheit die Herberge verlassen. Acht Euro finde ich ausgesprochen okay, es gibt eine Küche mit den wesentlichen Angeboten, Strom, eine Matratze, ein Kissen, Einwegbezüge (leider aus Plastik), Toiletten und Duschen mit heißem Wasser. In den Gängen und im Eingangsbereich hängen Fotografien vom Weg, von Pilgerinnen oder Pilgern, vorwiegend ältere Menschen, sie sind sehr inspirierend. Was werde ich in dieser Nacht träumen? Wohin wird mich mein weiterer Lebensweg noch verschlagen? Wann werde ich das „UNRUHE / ZUMUTUNGEN“-Exemplar von “Perpetuum Publishings” in der Hand halten? Es bleibt spannend. Morgen geht es weiter in diesem sonderbaren Leben, in diesem kosmischen Spiel, in dem wir alle eng miteinander verflochten sind und wachsen.

Vollkornsticks mit Pflaumenmarmelade – Sonntag, 11. Februar 2024

20:42 Uhr – Nájera
Mehr und mehr komme ich an als Pilger, als Mensch, als Seele in der Gemeinschaft. Gestern in der Unterkunft bot ich dem Südkoreaner Nudeln und eine frische Tasse Tee an. Dankend nahm er sie an. Ich tat das nicht weil ich es musste, sondern weil es sich richtig anfühlte und vielleicht weil ich der erste Reisende des Tages in der Herberge war. Wieder befinde ich mich im Sattel. Pamplona da ich erst gestern morgen noch Ma. küsste und umarmte ist Welten entfernt. Es erscheint mir surreal. All die Eindrücke prasseln auf mich ein. Das Fazit meiner ersten zwei Tage Radfahren ist sehr positiv. Einzig der Gegenwind und die kühlen Temperaturen können sich verändern. Die Leute sind freundlich, oft werde ich gegrüßt. Das einheimische Essen in Form von Paella lernte ich vorhin hier in der Pilgerherberge kennen. Dank gebührt Andrés aus Extremadura, der hier gemeinsam mit Maggi als Freiwilliger arbeitet. Mein Bauch ist noch nicht wieder zu 100 Prozent gesund. Heute startete ich in der Dunkelheit in Estella um 07:25 Uhr. Ich verließ als erster den Ort. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das auf der Tour passieren wird. Ich hielt es nicht länger aus, mich zog es auf den Camino. Schön war es in der Morgendämmerung langsam warm zu werden. Vor 08:00 Uhr trank ich aus meiner linken Handfläche einen Schluck Wein aus einem Brunnen. Den gibt es an der Weinkellerei “Fuente de Irache”. 100 Liter Wein werden den Pilgernden dort täglich zur Verfügung gestellt. Vielleicht hat mich der Alkohol getragen. Ich hatte einen Tagesschnitt von 11,1 km/h. 79,5 Kilometer habe ich zurückgelegt. Dazwischen gab es immer wieder Passagen, auf denen ich schieben musste. Ich nahm zu 95 Prozent den offiziellen Camino, der allerdings weit mehr für Mountainbikes geeignet ist. Lange musste ich dem Gegenwind trotzen. Dann am Vormittag noch Matsch auf den Feldwegen, der sich unter das Schutzblech am Hinterrad hängte. Er trocknete dort und blockierte zu einem gewissen Teil den Mantel. Aufgeben wollte ich nicht. Ich wollte allerdings auch nicht in Logroño schlafen. Also lehnte ich das Angebot von vier Pilgernden in Viarna ab, die zu einem Café gingen und mich einladen wollten. Wir trafen uns kurz in der Kirche der heiligen Maria, ein älterer Herr kam um uns den Stempel zu geben. Aus einem mir nicht näher ersichtlichen Grund waren es dann allerdings zwei Stempel. Logroño war schön. Rund vier Kilometer davor machte ich an einem Platz Pause, aß die Pasta und Tomatensoße aus meiner Vesperdose fertig auf, dazu Vollkornsticks mit Pflaumenmarmelade, Datteln und eine süße Orange. Danach schwang ich mich wieder auf den Sattel, es ging einen leichten Hügel hinauf, plötzlich war da Natalia mit ihrem 29 Zoll Mountainbike neben mir. Wir redeten auf spanisch, sie begleitete mich ins Zentrum der Stadt, gab mir ein paar Datteln, erzählte, dass sie vor 22 Jahren von Uruguay nach Logroño kam und mittlerweile die doppelte Staatsbürgerschaft hat. Ich fuhr oder vielmehr schob durch das Zentrum der Stadt, viele Menschen gingen durch die Gassen über die Pflastersteine, ich wollte in die Kirche gehen, doch eine Weihrauchwolke schlug mir entgegen, es war Gottesdienst und so zog ich weiter. Ein Flohmarkt irgendwo – am Abend erfuhr ich in einem Telefonat mit Ma. die am Vortag in Pamplona antike Briefmarken gekauft hatte, dass der Standinhaber aus Logroño kommt und dort auch sonntags anzutreffen ist. Ich verließ die Großstadt auf gut ausgebauten Radwegen, es gab Parkanlagen und Spielplätze, Ältere, Familien, Freunde und Bekannte gingen umher oder saßen auf Bänken. Es war ein angenehmes Gefühl ihr Zeuge zu sein und ich begriff wieder einmal, wie wichtig eine gute und durchdachte Infrastruktur für die Menschen ist.

Zwischen Belmondo und Saura – Montag, 12. Februar 2024

13:22 Uhr – Kurz hinter Belorado
Ich habe Bauchschmerzen und sitze auf einer Holzbank in der Sonne. Der Ort ist nur semi-schön. Hinter mir verläuft eine mittelmäßig befahrene Straße. Aber die Bank, die öffentlich nutzbare Toilette und die Tankstelle mit Kaffee und Snacks kam genau zur richtigen Zeit. Knapp 50 Kilometer habe ich zurückgelegt, werde ich es bis nach Burgos schaffen?

Ein paar Regentropfen gab es am Vormittag, wieder Gegenwind, unmittelbar nach dem Losfahren eine traumhafte Landschaft mit besonderen gedeckten Farbtönen. Weinreben, rot-sandige Gesteinsschichten, weite Blicke am Horizont und schneebedeckte Berge. Die Nacht war ruhig, vielleicht hatte ich einen glasklaren Traum, ich weiß es nicht mehr. Immer wieder passierte ich Pilgernde, ja, auf dem Rad ist man in einem anderen Tempo unterwegs. Dann kam ein Golfplatz in Cirueña, ein schrecklicher Ort, ein rießiger Ein- und Mehrfamilienhauswohnkomplex mit über 90 Prozent heruntergezogenen Rollläden. Im erschlossenen Wohngebiet vorwiegend Gras. Wer plante einst diesen Ort auf dem Reißbrett, wer investiere Millionen und wer setzte um? Was bedarf es, um diesen Ort attraktiv zu machen? Ich begreife, dass das keine “normale” Radtour ist. Sicher, jede Radreise ist einzigartig, ist ein Abenteuer für sich, aber der Jakobsweg ist auf eine gewisse Art anders. Nicht immer ist dieser besondere Geist spürbar. Aber unweigerlich ist er präsent. Jetzt ziehen hinter mir die Traktoren vorbei, die die Straßen blockieren und die Luft verpesten. An einem Abschnitt auf einem leicht gekiesten Feldweg parallel der Straße überholte ich den ganzen Tross von 50 bis 60 Fahrzeugen. Ich sehne die ruhige Landschaft herbei, hoffe, dass ich bald wieder in der Stille der Natur bin und einfach sein kann.

19:52 Uhr – Kurz vor Burgos auf dem Matagrande bei Atapuerca
Ausgesprochen kalt ist es. Ich habe es mir hier im Freien auf dem Boden bequem gemacht. Die Hauptsache ist, dass ich einen gefüllten Magen und immer noch einen großen Apfel, eine Banane und gute 100 Gramm Datteln habe. Vorhin aß ich als Vorspeise gekochten Apfel und Orange – auf dem Spirituskocher erhitzte ich Wasser, tat einen Teebeutel Minze dazu und fügte das geschnittene Obst bei. Einen Großteil des Wassers füllte ich mir in die Thermoskanne ab. Danach aß ich vier oder fünf Knoblauchzehen mit der geschnittenen Ochsentomate und dem klein gerupften Maisbrot. Es schmeckte vorzüglich. Wie kommt es, dass ich nun hier in der Kälte auf einer Plastiktüte, dem Regenschutz meines Rucksacks und ein paar schmutzigen T-Shirts liege? Ich weiß es nicht so recht. Ich wollte bis nach Burgos, doch es war bereits 17:00 Uhr wie ich in Atapuerca nach links von der Straße abbog und den offiziellen Schildern des Weges folgte. Dann ging es einen steinigen Weg rechts neben militärischem Sperrgelände nach oben. Ich war bereits sehr müde und mein Magen war seit dem Mittag etwas lädiert. Vier oder fünf Mal musste ich mich erleichtern, der Durchfall war recht stark. Ich sage mir, dass es mein Körper ist, der sich erleichtern muss und der sich reinigte. Der Tag an sich war schön, facettenreich und ellenlang. Immer wieder gibt es Passagen mit spirituellen Sprüchen à la: “Loose your mind to find your soul!” am Wegesrand. Ich tue mir noch schwer damit die richtigen Pausen zu machen. Vorhin gegen 16:00 Uhr in San Juan de Ortega hätte ich aller Voraussicht nach eine Unterkunft finden können. Aber das Etappenprofil bis Burgos sah nicht zu anspruchsvoll aus, gute 20 Kilometer, bis 18:30 oder 19:00 Uhr wäre es realistisch gewesen. Doch meine Beine waren schwer, auch heute ging es immer wieder bergauf, bis ab Villafranca Montes de Oca dann auf 1.153 Meter Höhe. Ich schob kontinuierlich. Früher hätte ich das als No-Go tituliert. Aber mittlerweile geht es mir um das Fortbewegen. Im Hintergrund höre ich Stimmen. Wo ich hier gelandet bin ist eine sehr intensive Stimmung. Ein wahrer Kraftort. Über mir der Sternenhimmel, dann die frische Neumondsichel. Knapp 100 Meter entfernt ein alter Steinkreis. Was mache ich aus meinem Leben? Zwei unbefristete Verträge habe ich gekündigt, doch für was – ja, für was? Kalt ist mir noch nicht so wirklich außer an meinen Füßen. Meine Beine sind mit Boxershorts, der langen Unterhose, der langen Jogginghose und der Regenhose recht gut geschützt. Oben trage ich ein kurzes und ein langes Funktionsshirt, das Longsleeve, den Kapuzenpulli aus Marseille, zwei Sherpa-Oberteile und meine Patagonia-Regenjacke. Freilich ist es ein Abenteuer. Aus irgendeinem Grund setzte ich meine häufigeren Gedanken meine Haare ganz kurz zu schneiden oder vielmehr zu rasieren vorhin in die Tat um. Es gelang mir mehr schlecht als recht. Vermutlich hätte ich die Smartphonekamera als Spiegel verwenden können, doch das wäre mir dann doch zu kompliziert gewesen. Am Rasierer überprüfte ich den Akkustand – ein grüner Balken, alles gut, ich öffne den Trimmer und fange mit der Arbeit an. Doch er verhakt sich immer wieder, nach recht kurzer Zeit löst sich die Klinge, die Akkuanzeige leuchtet rot. Plan B muss also her. Gut, dass ich die Klinge meines grünen Opinel-Klappmessers in Ecuador habe schleifen lassen. Das Messer habe ich vor Ewigkeiten einmal gefunden. Seitdem leistet es mir treue Dienste. Also nehme ich ein Büschel Haare in die Hand und säble mit der Klinge. Das Resultat ist glaube ich mitteldürftig. Vermutlich werden die anderen Menschen morgen vor Schock erstarren, wenn ich vor dem Betreten der Kathedrale von Burgos meine Mütze abnehme. Ich bin gespannt, was die Nacht bringt. Fahre ich vor etwas davon? Unweigerlich wird es mich früher oder später einholen, ich nehme mich überall hin mit. Aber im gegenwärtigen Moment bin ich hier unter den Myriaden von Sternen glücklich. Auch wenn im Hintergrund die Auto-…

Verheißungsvoller Buddha-Traum – Samstag, 17. Februar 2024

16:43 Uhr – O Cebreiro
Nun sind es noch rund 160 Kilometer bis zum (vorläufigen) Ende. Ich bin recht erledigt nach den Strapazen des Tages. Um 07:45 Uhr startete ich in Ravena. Marina konnte ich leider nicht wiedersehen. Gestern war der Tag mit Ma., Martina und Marina. Am gestrigen Morgen verließ ich León. Dort frühstückte ich noch gemeinsam mit Matthias aus Nürnberg. Er nimmt sich mehr Zeit für das Kulturelle, steigt immer wieder in den Bus für einzelne Abschnitte, doch hat als Ziel auch Santiago im Kopf, im Herzen oder in der Seele. Das Verlassen Leóns war in Ordnung, es war gut beschildert (mehr oder weniger), irgendwann bog dann ein Feldweg links von der Straße ab. Es ging leicht bergauf und gute zweihundert Meter vor mir sah ich einen Radfahrer. Just da ich “ihn” sah wusste ich, dass es Martina ist, die ich in Pamplona kennengelernt hatte. Ich hätte vermutet, sie erst zwei oder drei Tage später auf dem Weg zu treffen. Gemeinsam fuhren wir gute fünf oder sechs Stunden. In Santa Catalina de Somoza trennten sich unsere Wege. Ich mochte die gemeinsame Zeit mit ihr, sie ist sehr inspirierend, attraktiv und eine starke besondere Persönlichkeit. Am Ende hat sie mir Fernradwege in Italien wie den Aidaweg empfohlen. Immer noch die Frage was ich aus meinem Leben mache. Bin ich ein Landstreicher? Wohin wird mich mein unstetes Leben letztlich verschlagen? Gestern Abend mit Marina wünschte ich mir die Nacht mit ihr zu verbringen. Nicht unbedingt mit ihr zu schlafen, sondern um ihre Energie und ihren Körper zu spüren, um sie zu berühren und sie zu küssen. Sie war sehr lebendig und herzlich. Vielleicht ist sie der Grund, weswegen ich jetzt das kleine Bier no. 3 auf meinem Tisch stehen habe. Heute fuhr ich 90 Kilometer und bewältigte um die 2.000 Höhenmeter. Es war keine einfache Etappe, es stellte mich auf die Probe, doch jetzt bin ich froh, wenn nicht sogar glücklich, dass ich hier auf der Höhe auf 1.300 Metern angelangt bin. Die kommunale Unterkunft kostet 10 Euro. Ich finde, dass es ein angemessener Preis ist. Verlassen mich meine Kräfte jetzt? Der Alkohol löst meine Anspannungen, meine müden Beine und meinen erschöpften Körper. Ja, ich muss weiter. Das weiß und das spüre ich. Und gleichzeitig gibt es einen gewissen Stolz in mir es bis hierher geschafft zu haben. Gute 1.300 Kilometer sind es mittlerweile seit Marseille. Die legen sich nicht ohne Weiteres zurück. Was wird mich an den kommenden Weggabelungen erwarten? Ich darf vertrauen. Ich bin in Verbindung mit den Spirits. Ich bin geborgen im Universum. Alles ist gut. Ich glaube, dass ich betrunken bin.

Die philosophisch in den Sonnenuntergang schauende Pilgerin

20:31 Uhr
Nun bin ich also in der Unterkunft angekommen. Die letzten Stunden waren sehr aufreibend. Ich habe Lee kennengelernt, wir haben uns gute drei oder vier Stunden unterhalten. Vorhin am Tisch dachte ich zeitweise, dass mir Osho oder Krishnamurti gegenüber sitzt. Er sprach die Wahrheit, es war die Weisheit. Nach dem Verlassen des Cafés telefonierte ich mit meiner Schwester – es war ein schönes Gespräch – und wieder vertrat ich mir die Beine. Ich ging etwas auf dem Camino zurück um abseits der Stadt in der Natur zu sein. Nach einigen Schritten ruhte am Wegesrand ein Mann. Zunächst dachte ich es sei ein Italiener, der gerade etwas geraucht hatte. Wir nickten uns zu. Irgendwann kehrte ich zurück, unsere Blicke trafen sich wieder, das Telefonat mit meiner Schwester neigte sich dem Ende zu und schon stand Lee neben mir, wir unterhielten uns, es war eine Begegnung, die das Universum arrangiert hatte. Er erzählte mir von seinen Caminos, von seinem einst „normalen“ Leben als Angestellter in den Niederlanden und von seinem Buddha-Traum. Dort wurde er auf die andere Seite von einer Linie gesetzt. Die Bedeutung davon? Dass er seinen Job und seine Wohnung kündigte und anfing zu laufen. Erst nach Paris und dann bis nach Santiago (nachdem ihm in der französischen Hauptstadt von dem Jakobsweg erzählt wurde). Er hat eigentlich fast gar kein Gepäck. Eine kleine Decke. Heute Nacht schläft er draußen. Früher hat er ein Zelt gehabt. Nun sieht er die Kälte als Übungsfeld an, seiner Angst zu begegnen. Aus ihm sprach so viel Weisheit. Seine Augen funkelten. Andere mögen sagen er sei verrückt, doch er ist einzig er selbst. Ich komme wieder hinein in den Schreibflow. Ich weiß nicht, ob es etwas mit der Nähe zu Santiago zu tun hat. Es ist eine Reise ins Ungewisse. Was kommt morgen auf mich zu? Was wenn ich Santiago erreicht habe? Wohin wird es mich letztlich verschlagen? Was bringt die Zukunft? Tief in mir trage ich das Urvertrauen, dass alles seinen tieferen Sinn hat. Ich bin als Kind des Universums in diesem ewiglichen Kosmos geborgen. Alles ist gut. Alles ist heilig. Ich bin im Reinen mit mir selbst. Ich denke an Marina.

Im Auenland – Sonntag, 18. Februar 2024

Kurz nach 21:00 Uhr
Jetzt habe ich es tatsächlich fast geschafft. Ich bin nicht nur in Galizien, nein, die Kilometersteine am Rand zeigen inzwischen eine Anzeige unter 100. Genauer gesagt 68,… Ich bin nicht betrunken, doch habe etwas Wein intus und geraucht. Das Wichtigste ist es meinen Spirit zu schützen. Ich muss einfach mit den höchsten Geistern fliegen. Alles kann, nichts muss. Das Abendessen war gut. Ich habe viele Nudeln mit Tomatensoße und Gewürzen als auch Knoblauch gegessen. Wie viele Menschen gingen diesen Weg bereits? Was passiert mit mir im Morgen? Was wird aus der Beziehung zwischen Ma. und mir? Noch am Morgen startete ich um 07:45 Uhr in O Cebreiro. Es war gut, doch mittlerweile ist es auch schon wieder eine Wellenlänge entfernt. Ich darf mich darauf freuen, dass ich am Dienstag das Meer sehen werde. Ich bin in Verbindung mit all den höheren Mächten. Ich bin ein Kind des Universums. Von Simone habe ich ein paar Züge aus dem Joint genommen. Jetzt ist es ein angenehmes und gelöstes Gefühl. In einer Ortschaft wurde ich fast von einem Hund aufgefressen. Er stand mitten auf der Straße, war groß wie ein kleines Kalb und bellte. Ich wollte mich nicht mit ihm anlegen, aber er sprang immer wieder an mein Rad. Ich versuchte ihn an die Hauswände zu drängen. Letztlich, nach 200 oder 300 Metern, blieb er dann zurück. Was werde ich morgen in Santiago de Compostela in der Kirche anziehen? Dann bin ich ein 34 Jahre alter Mann…

Meine Wegbegleiterinnen – Dienstag, 20. Februar 2024 – Cee

17:45 Uhr (Polarsteps-Eintrag)
Jetzt bin ich angekommen in Cee, ein großes Ziel, fast noch ein Bisschen größer als Santiago de Compostela vermutlich. Ich sitze hier am Strand, bin mit dem Wasser verbunden, blicke auf das Meer, bin ein Teil von ihm. Vermutlich wird es die nächsten Wochen mein Begleiter sein. Die Wellen sind meine Begleiterinnen. Froh bin ich angekommen zu sein, die meisten Pilgernden die ich kennengelernt habe kehren ab Santiago oder Finisterre wieder zurück an ihren Wohnort.
Kai ist weit entfernt – auch wenn wir uns erst gegen Mittag getroffen haben. Er hat von der Ähnlichkeit Cees zu Bergen, von seinem Haus in Valencia und dem in Norwegen, von seinem Porsche 911 und seiner Tätigkeit als Lehrer an einer norwegischen Schule in Spanien erzählt.
Wie wird es morgen weitergehen? Ich bin am überlegen ob es Sinn macht nach Portugal weiterzuziehen. Hat nicht jede Pilgerreise unweigerlich ein Ende? Wohin führt mich mein weiterer Weg? Wie oft werde ich noch aufstehen und losziehen?
Wieder Fragen über Fragen…

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert