Ein neuer Weg – Part I
Gliederung
- „Der blaue Weg“
- Der Counterpart Algiers
- Die Route 66
- Mit 314 km/h durch Aix-en-Provence
- „Caravan“ auf der Avenue du Président Kennedy
- Das weiße Pferd
- Capharnarhum
- Auf dem GR78
- Cristo Redentor auf dem Zuckerhut
- Ein Glas Rotwein bei Kerzenschein
- Der Col de Portet d’Aspet
- Schwarze Buchstaben auf weißem Grund und rot umrandet: LOURDES
- Der gelbe Pfeil
„Der blaue Weg“ – Samstag, 13. Januar 2024 – Remstal
22:25 Uhr
Das erste neue Notizbuch in diesem Jahr – ich bin aufgeregt, wohin mich jene Reise führen wird und wie viele jener noch folgen werden. Wieder die erste neue Seite eines Journals, wohin wirst du mich führen, Füllfederhalter, was wird mein „Der blaue Weg“, wo befindet sich mein Stuttgart? Morgen dann Barcelona, ich bin aufgeregt, wird mein Rucksack problemlos bei den Handgepäckmaßen durchgehen, Gedanken in meinem Kopf, doch Frieden in meinem Herzen. „Heal your Heart – El Diario“ ist beendet, das spüre ich, die Energie des Neubeginns trägt mich, es ist Zeit für ein neues Kapitel, „Ein neuer Weg“ wartet darauf mit Zuversicht und mutigen Schritten begangen zu werden. Zwei Teelichte brennen. Eines in den letzten Zügen auf dem Schreibtisch HEA anstrahlend, das andere auf meinem Nachttisch vor der Jungfrau von Lourdes und dem Tintenfass. Ich trinke Artimisiatee für meine Zellen und bete. Mein Atem ist sehr ruhig, ich freue mich weil ich weiß, dass ich dieses Papier bis nach Santiago de Compostela tragen werde. Auf welcher Seite werde ich mich dann befinden, was wird mir dann begegnet sein, für was werde ich mich entschieden haben? Heute gab mir meine Mutter die zweite Version „ZUMUTUNGEN“ meines Großvaters. So liegt dieses Exemplar nun also auf dem Schreibtisch und wartet darauf, von mir digitalisiert zu werden. Ganz klassisch möchte ich Seite für Seite händisch transkribieren, damit ich in sein Denken, in sein Fühlen, in sein Sein hineinkomme. Ich habe begonnen die „Schreibtage“ meiner Notizbücher festzuhalten. Heute habe ich knapp zwei Stapel geschafft. Ich habe also jeweils eines auf dem Tisch geöffnet und dann auf einem separaten Papier die Daten eingetragen. Mein Ziel ist es eine große Übersicht all der Tage zu haben, da ich schrieb. Sie kann freilich nicht abschließend sein – die Journale allerdings wird sie gut abbilden. Was sonst noch geschah? Ich fuhr mit der S-Bahn (pünktlich!) in die Neckarstadt, traf meine Schwester an der U-Bahn-Haltestelle „Degerloch“, wir spazierten in der Kälte umgeben von Eiskristallen Richtung Heusteig via Santiago-de-Chile Platz (Äquivalent in Lateinamerika „Plaza Stuttgart“) und gingen dann schließlich im Bohnenviertel an der B14 in ein Café namens Ché. Dort fühlte ich mich wohl und war gut aufgehoben. Morgen um 19:00 Uhr werden Ma. und ich aller Voraussicht nach Jaya Deva live in Katalonien sehen. Es wird spannend.
Der Counterpart Algiers – Samstag, 20. Januar 2024 – Remstal
17:33 Uhr
Hier sitze ich nun am Schreibtisch und schreibe auf dem Smartphone mit meiner Bluetooth-Tastatur. Es ist eine gute Kombination. Es funktioniert reibungslos. Der Deal ist klasse. Das steht außer Frage. Nun denn, die Zeit ist gekommen, da ich weiterziehen muss. Alles gerät ein weiteres Mal aus den Fugen. Hier sitze ich auf dem Stuhl, doch bereits in 48 Stunden werde ich in der Metropole am Mittelmeer – dem Counterpart Algiers – eintreffen. Dafür bin ich dankbar. Und auch, dass ich meinen angebissenen klappbaren Apfel nicht mitschleppen muss in meiner Satteltasche.
22:14 Uhr
Nun ist es nicht mehr allzulange bis nach Marseille. Ich darf Fuß fassen – ich wünsche mir Fuß zu fassen. Heute fing ich an, das „UNRUHE / ZUMUTUNGEN“-Manuskript meines Großvaters zu digitalisieren. Und am Freitag auf der U-Bahnfahrt vom Flughafen Leinfelden-Echterdingen bis ins Stuttgarter Zentrum mit der Linie 6 schickte ich einen Preisvorschlag an die Verkäuferin einer Schreibmaschine. Genauer gesagt handelt es sich um eine Remington Mark II – Sperry Rand. Ich hoffe also, dass meine Mutter das Paket bei meiner Abwesenheit in Empfang nehmen kann und wird. Zwei Teelichte brennen. Am frühen Nachmittag beendete ich die analoge Schreibtage-Übersicht. Nun verfüge ich also über eine Tabelle seit Anfang 2018 mit jedem Tag und dem Namen eines Notizbuches – sofern es Einträge gibt. An maximal fünf Tagen habe ich in drei Journalen gleichzeitig Einträge vorgenommen. Was mir diese Übersicht zu geben vermag, das weiß ich tatsächlich selbst nicht so wirklich. Was vermag sie zu bringen die Zukunft? Für dieses Jahr wünsche ich mir, mit dem Rad auf dem Rückweg wieder in diese kleine bezaubernde Ortschaft nahe Barcelonas zu fahren, da einem am frühen Morgen bereits Wildschweine über den Weg laufen. Ich spüre, dass ich mich an einer Gabelung befinde. Nun geht es ein weiteres Mal darum, mich für eine Richtung zu entscheiden. Spielt die Wahl eine Rolle? Gibt es die passende Entscheidung? Alles hat sich verändert. Ich weiß, dass ich auf spiritueller Ebene kein Sandkorn bin . So darf ich mich also wie so oft zuvor transformieren.
Die Route 66 – Sonntag, 21. Januar 2024
18:59 Uhr
Perfection is not a question of ability but the will to believe in the simplest solution beyond any other choice. Mein Herz schlägt laut, in 24 Stunden werde ich mich in Marseille befinden und gedanklich bereits ein Stück weiter in Santiago de Compostela sein.
Am 01. Februar 2020 erstellte ich die Route Marseille – Santiago bereits in meiner Kartenapp der Wahl. 1.706 Kilometer und gute 20-tausend Höhenmeter sollten an sich keine größere Herausforderung darstellen.
Mit 314 km/h durch Aix-en-Provence – Montag, 22. Januar 2024
09:19 Uhr (Polarsteps-Eintrag)
Zweiter Versuch: Ich sitze im IRE von Stuttgart bis Karlsruhe, habe soeben die Meldung auf dem Smartphone erhalten, dass der Anschlusszug ausfällt, gut, dass ich 1,5 Stunden Puffer eingeplant habe. Improvisieren ist auf einer solchen Reise grundlegend. Die Nacht war kurz und unruhig. Gestern Abend zählte ich noch die analogen Schreibtage zusammen, die ich aus den Datumsangaben der einzelnen 58 Notizbücher Seite für Seite herausgelesen habe. In Summe sind es 900 Tage im Zeitraum 2018 bis Ende 2023. Einen Monat habe ich mit 31 in Folge geschriebenen Tagen. Wie wird es weitergehen mit „Perpetuum Publishings“? Ich weiß es nicht. Das Bücherregal no. 1 quillt über, im März ist es erforderlich, dass ich in der Holzwerkstatt meines Vaters das zweite baue. Ma. hat mir einen Flyer für eine Permakultur-Ausbildung im Süden Spaniens vom 01. April bis zum 01. Juli geschickt. Eventuell ist das eine Option.
Das „UNRUHE / ZUMUTUNGEN“-Manuskript meines Großvaters ist zu rund 10 Prozent digitalisiert. Wenn ich Portugal erreiche, werde ich Land no. 39 oder 40 von meiner Liste abhaken können.
Was sind die Gründe für diese weitere Reise?
10:40 Uhr (Polarsteps-Eintrag)
Das Warten ist ein Teil der Reise. Werde ich nach Marseille kommen? Stand jetzt ja. Wenn ich in Santiago de Compostela ankommen soll, dann werde ich ankommen. Kein Weg ist zu weit. Mir ist ein wenig kühl, ich habe eine kleine Blutorange gegessen, beim DB-Servicezentrum habe ich die Auskunft erhalten, dass der Regional-Express theoretisch fährt. Theorie und Praxis sind zwei Paar Schuhe. Im TGV werde ich mich entspannt zurücklegen können und einen Kaffee trinken. Der Karlsruhe Hauptbahnhof ist charakteristisch wegen dem Fahrradparkhaus beim Ausgang Ost. Mittlerweile kenne ich glaube ich fast alle ICE-Bahnhöfe in Deutschland. Ist ja auch nicht sonderlich groß das Land.
Als welcher Mensch werde ich wann wieder im Remstal ankommen? Welche Erfahrungen werde ich gesammelt, welche Begegnungen gehabt und welche einzigartigen Momente in mein Herz geschlossen haben? Was wird der Rest des Jahres, der Rest der Dekade, der Rest des Jahrhunderts bringen? Kopf hoch und vertrauen, fliege mit den Spirits und den Adlern. Alles ist so wie es sein soll.
11:30 Uhr (Polarsteps-Eintrag)
Ich weiß nicht, mit wie viel Glück ich es jetzt noch geschafft habe einen ICE bis nach Offenburg zu erhalten. Auf die letzte Sekunde habe ich noch ein Ticket für mich digital gebucht. Für das Fahrrad ging das allerdings nicht. Nun habe ich auf Geratewohl das Fahrrad trotzdem in den Zug gestellt. Konkreter gesagt in ein Fahrradabteil ganz zu Beginn mit sieben freien Stellplätzen. Jetzt sind es nur noch sechs. Wenn ich oder mein Fahrrad rausgeschmissen werde und 60 Euro Strafe zahlen muss dann soll es so sein, dann verstehe ich die Deutsche Bahn allerdings noch weniger. Also heißt gegenwärtig die Devise tief durchatmen und vertrauen. Alles wird sich regeln.
13:40 Uhr – TGV in Straßburg
Endlich sitze ich in dem Zug, der mich an den vorläufigen Zielort bringen wird. Fast hätte es nicht mehr funktioniert. Hier erhielt ich die Information, dass in Besançon ein Mensch mit einem zweiten Fahrrad einsteigen wird, dass es nett wäre, wenn ich die Satteltaschen vom Fahrrad abmache. An den Bahnsteigen gab es keine Durchsagen bezüglich Verspätungen oder Zugausfall. Wobei auch dieser Zug jetzt mit vier oder fünf Minuten Verspätung abgefahren ist. Ich bin gespannt darauf, wer alles unterwegs einsteigen wird. Gut ist sie mir noch in Erinnerung die Rückfahrt im TGV von Marseille aus bis Mulhouse. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit – viel ist seitdem geschehen. Wieder die Gedanken, als welcher Mensch ich zurückkehren werde. Der Stress vom Vormittag ist abgefallen. Man muss es nicht verstehen, wenn ein Zug planmäßig an der Abfahrtstafel, vom Servicepersonal kommuniziert als auch von der Smartphoneapp bis 20 Minuten vor Abfahrt angezeigt wird, und dann plötzlich durch die vier Worte „Zug fällt heute aus“ zerstört wird. In einer kleinen Pfütze also sog ich noch die letzten Hoffnungsschimmer auf und flehte zu Gott, dass ich doch noch eine Lösung finde. Alles Schnee von gestern, so langsam muss ich mich mental auf die bevorstehenden Etappen einstellen. Meine Füße sind kalt und irgendwie bin ich nur so semi-motiviert. Aber das ist ein Teil des Spiels. Wieder ist da die Fensterstrebe auf Kopfhöhe, die einen freien Blick in die Landschaft behindert. Aber sollte ich nicht meinen Fokus doch lieber auf das Positive richten? Meine zwei Füllfederhalter sind voll, ich habe noch etwas Tee und der Barrista oder vielmehr die Barrista an Bord heißt Pamela. Das Leben darf aus mir herauskommen, ich darf mich so annehmen, wie ich bin. Lange brannten die Kerzen in der vergangenen Nacht. „Ab Morgen werde ich ein neuer Mensch sein“, sprachs und zog los. Zwei Notizbücher nehme ich mit auf diese kleine Expedition – „Restoration“ aka „… with an open heart / the body“ no. 60 und eines mit Sternen und Zahlen, das ich damals am Mittelmeer im Vauban-Viertel in einem ausgezeichneten Buchladen erworb. Mit wie vielen gefüllten Seiten werde ich zurückkehren? Gibt es nicht doch andere Dinge, die besser oder wichtiger wären?
14:22 Uhr
Das Reisen ist ein fester Bestandteil meines Lebens. Sicherlich steckt nicht in jedem Menschen die Notwendigkeit, den blauen Planeten da er weilt, atmet, geht und liebt immer wieder neu zu erkunden. Dies gilt es zu akzeptieren. Mittlerweile schreibe ich in meinen Lebenslauf, dass ich gerne schreibe und bereits sieben Millionen Zeichen exklusive der Leerzeichen angefertigt habe. Ob das jemanden beeindruckt, das weiß ich nicht und darum geht es mir auch nicht. Mir ist schlichtweg wichtig, dass die Leute erkennen, dass ich etwas Großes habe, das mir wichtig ist und wofür ich kontinuierlich aufstehe. Hätte ich mich irgendwie mental auf diese Pilgerreise vorbereiten sollen? Warum mache ich so etwas? Geht es mir um den Glauben, um das Spirituelle, darum sagen zu können, dass ich in Santiago war? Bereits in 14 Tagen soll ich dort gemeinsam mit Ma. wandern. Es erscheint mir noch in Gänze unreal. Ich atme kontinuierlich ein und aus, Ecuador schlägt in mir, Ecuador verlieh mir den Frieden, Ecuador ließ mich wieder aufleben. Das Panelapulver in der einen Satteltasche wurde in Kolumbien hergestellt, ich kaufte es nördlich von Barcelona. Die Platanos, die ich gestern zubereitete, wuchsen in Ecuador auf, wurden dort geerntet und für den Export vorbereitet. Eventuell aß ein anderer Julian die Kochbananen, die ich dort im Manduriacu-Tal mit Gilmar, Carlos und Don Marcelo pflückte. Träumen wird ja wohl noch erlaubt sein. Warum entscheide ich mich oft für Sachen, die sich abseits des Gewohnten befinden? Jeder hat seinen eigenen Weg, früher blickte ich zu häufig im Außen nach links und nach rechts. Heute bin ich mehr bei mir, mehr in der Mitte meines Zentrums. Ich habe erkannt, dass man sich nicht aufregen oder empören muss, wenn einem etwas nicht gefällt. Gleichzeitig sollte oder gar darf man sich nicht wegducken. Man kann aufrecht sein und das Rückgrat zeigen, Unverhältnißmäßigkeiten ansprechen ohne zu mutmaßen oder aufgrund nicht umfänglich vorhandener Tatsachen zu spekulieren. Das Manuskript meines Großvaters zeigt oder lehrt mich wieder, mich in das Denken meines Gegenübers hineinzubegeben. Es ist nicht damit getan, die Schreibmaschinenseiten von ihm abzutippen, nein, die Rechtschreibung muss angepasst werden, es müssen Namen, Orte und Institutionen überprüft und möglicherweise für das heutige Zeitgeschehen nicht mehr passende Aussagen anhand von Anmerkungen oder Kommentaren in den passenden Kontext eingeordnet werden. Nun befinde ich mich auf Seite 10, was wird sich da am Ende des Jahres befinden? Französisch kann ich nicht mehr wirklich sprechen. Beim Bäcker stolperte ich bereits über die Zahl „deux“ in Verbindung mit „Pain aux raisins“. Immer wieder verwechsele ich „Gracias“ mit „Merci“ oder sage „Si“, wenn ich eigentlich „Oui“ meine und es mein Gegenüber auch erwartet. Der Barrista an Bord meinte vorhin zu mir: „Alors, maintenant, nous parlons espagnol.“ Jeder Mensch um mich herum scheint angekommen, hat seinen Alltag und ist verwurzelt. Ich dahingegen bin das im Sonnenlicht regungslos stehende Staubkorn, die gescheiterte Existenz, der David am Boden. Das Blut fließt durch meine Adern und Venen, in mir pulsiert es, ich bin zumindest angekommen in diesem Zug auf Sitzplatz no. 28.
Schwere Regentropfen prasseln auf die Scheibe, der Himmel ist von dick-dichten Wolkenschleiern verhangen. Alles Zeichen, dass es eventuell nicht die beste Jahreszeit ist, um mit dem Rad über die Pyrenäen und weiter durch das Hinterland Spaniens zu strampeln. Aber okay – ich sage mir, dass ich Artimisia-Tee, Mandeln, getrocknete Mangos, Bananenchips, Kürbiskerne, Haferflocken, einen Liter vegane Milch, zwei Packungen Müsliriegel und ein paar Teebeutel mitgenommen habe. Im Zweifelsfall kann ich mich an ihnen sattessen, so dass ich kugelrund bin, dass ich mich nicht mehr vom Fleck bewegen kann und de facto notgedrungen an Ort und Stelle meinen Anker in den Boden rammen muss um zu bleiben. Mein Magen knurrt, das Essen des Tages war gewöhnungsbedürftig und eher zuckerhaltig. Pasta und Kohlenhydrate en Masse wären da deutlich besser gewesen. Ich glaube, dass ich mich erkälte. Da bahnt sich was an. Liege ich morgen nicht mit einem Fieberschub im Hostelbett? Ich darf vertrauen und alles so annehmen, wie es ist.
15:37 Uhr
Wie angekündigt stieg soeben in Besançon ein zweiter Radfahrer ein. Ich gehe davon aus, dass er doppelt so alt ist wie ich. Die letzte Radreise war über ein Wochenende von Mannheim bis Mainz. Im Hinterkopf habe ich immer noch den Gedanken, dass ich mich falls alles schief laufen sollte – auf den Sattel setzen und einmal rund um den Globus fahren kann. Nichts ist unmöglich. Halte deine Träume fest im Visier und sei dir gewiss, dass du an die Orte gespült werden wirst, die für dich bestimmt sind. Wir hängen da alle gemeinsam mit drin. Die Sonne scheint an dem Ort da sie weilt bei ihren Rotkehlchen, hier immer noch der verschleierte Himmel. Ist es eine Reise zurück in der Zeit? Werde ich Schnee bis nach Santiago sehen? Wohin gehe ich, wohin fahre ich, auf welchen Schienen bewegt sich der Zug? Oskar hatte seinen Meteor-X23, ich habe meinen schwarzen Surly Long Haul Trucker aus Edelstahl. Das Morgen einzig eine Erfindung des Geistes? Ich spüre meinen Körper, bin verbunden und verwurzelt mit der Erde, mit dem Wasser, mit dem Wind und mit dem Feuer, mit den unsichtbaren Wesen, mit den Pflanzen, mit den Tieren und mit den Menschen. Meine Ahnen stehen hinter mir – ich hier an derselben Stelle, da eine jede Seele die Schwelle übertreten musste. Jenseits der Tagträumerei existiert eine Zeit. Ein Bild ohne Rahmen wäre ein See ohne Ufer wäre ein Buch ohne Einband oder Ende.
Was ist mir wichtig? Die Verbindung mit meiner Schwester, die Beziehung zu Ma., das Schreiben, die Gewissheit, dass ich meine Mutter und meinen Vater liebe, einen jeden Tag mit funkelnden Augen und einem Kribbeln in meinen Poren aufstehe…
21:13 Uhr – Marseille
Ich befinde mich nun im „The People Hostel“ in der Nachbarschaft Les Grands Carmes. Mein Magen ist gefüllt mit zwei recht großen Stücken Pizza-Fromage spezial und Funghi als auch einem Tee. Ich glaube es war ein arabischer Schwarztee. Die Höchstgeschwindigkeit vorhin im Zug war 314 km/h zwischen Avignon und Aix-en-Provence. Nur punktuell doch trotzdem beeindruckend was der Erfindergeist des Menschen samt dem Glauben auf die Schiene gebracht hat. Wenn man sich vorstellt, dass in der Dunkelheit Frankreichs Menschen durch die Landschaft in diesem Tempo brausen und mehr oder weniger normal gehen können, dann ist das faszinierend. Die Fragen, ob diese Geschwindigkeit letztlich so vielversprechend ist und welcher Strom dabei verbraucht wird klammere ich aus. Die erste Nacht meiner Pilgerreise werde ich also in der ältesten Stadt des Landes verbringen. In sechs unterschiedlichen Zügen bin ich heute gefahren.
„Caravan“ auf der Avenue du Président Kennedy – Dienstag, 23. Januar 2024
10:20 Uhr – Châteauneuf-les-Martigues
Nachdem ich von der Boulangerie Nahdi mit zwei frisch gebackenen Pain-aux-Chocolat und einem Café au Lait versorgt wurde sitze ich nun im kleinen Zentrum auf einer Holzbank in der Sonne – vor mir ein Parkplatz, hinter mir eine bemalte Hausfassade (Straßenzug, Leben, Geschäftigkeit). Das Verlassen Marseilles war ein wenig anstrengend, im Morgengrauen gegen 07:40 Uhr radelte ich los, fuhr zunächst nach ein paar Metern über eine größere Scherbe mit dem beladenen Hinterrad, es krachte gewaltig, doch der „unplattbare“ Reifen hatte sich bewährt. Ich verzichtete darauf, in die Altstadt oder zum Hafen zu fahren, verließ also direkt Richtung Nordwesten das Millionengeflecht, musste mir die Straße mit schweren LKWs, Autos und Schlaglöchern teilen und erreichte schließlich doch nach den ersten Höhenmetern idyllischere Landstriche. Mein Magen blieb leer, ich war zu nervös, um in der Unterkunft zu frühstücken. Die Nacht war in Ordnung, vermutlich fand ich gegen 23:30 Uhr Schlaf. Ich wachte immer wieder auf, oft öffnete sich die Zimmertüre, Leute kamen und gingen, packten ihre Taschen, das Geräusch der Reißverschlüsse – vermutlich waren alle acht Betten belegt. Dann vorhin bei einem Kreisverkehr hielt ich an um auf die Navigationsapp zu schauen, wie ich weiterfuhr sah ich, dass aus dem angrenzenden Grundstück ein mittelgroßer Hund (wirkte nicht wirklich gefährlich – doch nach den Südamerikaerfahrungen ist das Aussehen oder die Größe nicht unbedingt relevant) gerannt kam, ich wurde schneller, er neben mir, wir bewegten uns beide auf der Straße (mit den Autos), dann nach knapp 200 Metern ebbten seine Laute ab, ich nahm ihn nicht mehr wahr. Ich hoffe, dass er nicht überfahren wurde. Werde ich Arles und Santiago einzig durch eigene Kraftaufwendung erreichen?
11:28 Uhr – Martigues (Polarsteps-Eintrag)
Ich verlasse das kleine bezaubernde Hafenstädtchen Martigues im strahlenden Schein der Sonne auf der Avenue du Président Kennedy mit „Caravan“ auf dem linken Ohr. Welch ein Finale, ein grandioser Tag.
13:56 Uhr – Irgendwo an einem Kanal weit hinter Fos-sur-Mer
34,3 Kilometer sind es noch, nicht wenig, aber die Strecke führt abseits der Straßen auf schönen Wegen am Wasser entlang. Und es wird voraussichtlich bis knapp 18:00 Uhr hell sein. Ich sitze barfuß im Schneidersitz auf dem Gras, esse aus der XXL-Schale (leider Aluminium) Feinblatt-Haferflocken und meine Spezialmischung bestehend aus Bananenchips, getrockneter Mango und Kürbiskernen, dazu etwas feinen Panela und Hafermilch. Langsam komme ich in Frankreich an und kann mich auf diese Tour eingrooven.
Das weiße Pferd – Mittwoch, 24. Januar 2024
10:17 Uhr
Ich sitze auf einer Holzbank am Canal du Rhône à Sète in der Sonne, es ist ein herrlicher Tag, um 08:02 Uhr fuhr ich von dem Hotel mit leerem Magen los, fand mich schnell auf einem Radweg, der mich unter der Autobahn auf der Brücke über die Rhone brachte und verließ auf wenig befahrenen Nebenstraßen Arles. Die Natur hatte mich bald in Beschlag genommen, schnurgerade Achsen zogen mich durch die weiten Felder der Camargue, an den Seiten die majestätisch weißen Pferde, Wildgänse, Maisen, Nutrias und eine Katze. Ich merkte die Kilometer des gestrigen Tages in den Beinen. 12 Stunden lag ich im Bett in der Dunkelheit – ich schlief zwar nicht die gesamte Zeit, doch döste vor mich hin, spürte in mich hinein, stellte mir die Frage nach dem Warum. All die Eindrücke prasseln wieder auf mich ein, Marseille eine Ewigkeit entfernt, die Handschuhe zog ich vor knapp 20 Minuten an, das Meer werde ich heute wieder lieben dürfen.
12:33 Uhr
Ich sitze auf dem Sand am Wasser, das leichte Rauschen der Wellen tut gut, ich befinde mich in Le Grau-du-Roi und mal sehen, ob es etwas damit wird, bis nach Béziers zu kommen. Ein gutes Hostel habe ich dort entdeckt, aber wer weiß, vielleicht hat Gott auch anderes mit mir vor. Mein Gesicht ist eingecremt, in meinem Magen befindet sich ein Thunfischsandwitch, ein Apfel und ein paar Datteln. Ich bin müde und erschöpft. Auf der Route kamen mir zwei Radreisende entgegen, wir grüßten uns, doch ich befinde mich auf meinem Weg. Was heißt das? Meine Mutter sagte mir vor der Abfahrt, dass ich mein eigenes Leben habe. Was bedeutet das? Der Sand hält mich, die Sonnenstrahlen auf der Haut tun gut, mein Blick weitet sich, wenn ich zum Horizont schaue und all das Blau wahrnehme. Mir gefällt es hier, doch gleichzeitig gibt es da diese Stimme die sagt: „Fahre weiter, du hast noch einiges vor dir, du kannst jetzt nicht so lange Pause machen.“ Schenke ich ihr Beachtung?
Capharnarhum – Donnerstag, 25. Januar 2024
Hier sitze ich nun also am Strand und ein wenig kommt es mir so vor, als sei ich gestrandet. Ich sitze auf dem Sand und bin an einen Holzsteg angelehnt. Rechts von mir in weiter Ferne die langgezogenen Pyrenäen. Werde ich es bis nach Santiago schaffen? Die Worte von Ma., dass ich mich nicht stressen sollte sind mir noch im Gedächtnis. Ich habe mich dazu entschieden, nur bis nach Béziers zu fahren. Das sind ungefähr 40 oder 50 Kilometer in Summe. Ich stand um 08:00 Uhr auf, ging ins Bad, frühstückte im Hostel, trank einen Café au Lait und den Orangensaft, aß vier oder fünf Brote und eine Orange, unterhielt mich mit Ralf aus dem Remstal. Meine Oberschenkel schmerzten, habe ich mir nicht zu viel zugemutet? Ralf meinte zu mir, dass es das Wichtigste ist, Zeit zu haben. Was genau meinte er damit? Wir alle haben die gleiche Zeit, 24 Stunden ist der Tag im Leben eines Menschen lang. Doch was stellen wir in dieser Zeiteinheit an, was machen wir, wie wichtig ist uns diese Zeitspanne? Am Morgen kaufte ich in der Bäckerei – sie sah von außen und auch von innen ausgesprochen teuer aus – zwei Pain-aux-Chocolate und bezahlte sage und schreibe zwei Euro dafür. Es ist sagenhaft. Im Nachhinein hätte ich mir zehn davon kaufen sollen. Naja, jetzt befinden sich diese in meinem Magen, ich esse die letzten Datteln und meine Spezialmischung auf, mein Köper sehnt sich nach Energie. Ich schreibe mit der Bluetooth-Tastatur, mein Smartphone steht mit dem aktivierten Notizenprogramm in meinem rechten Schuh. Was werde ich heute noch machen? Wohin wird es mich verschlagen? Wenn ich jetzt losfahre, dann könnte ich um 13:30 Uhr in Béziers sein. Doch was dann? Ursprünglich berechnete ich, dass ich am Samstagabend in Lourdes ankommen könnte. Doch ist das das Reisen. Was ist letztlich alles von Bedeutung? Ma. hat mir eine sehr schöne Nachricht geschrieben, gemeinsam liefen wir einen Weg im Traum. Es erfreut mein Herz. Wie geht es in meinem Leben weiter? Was werde ich mit den mir bevorstehenden Jahren anstellen? Wohin gehe ich? Wo bleibe ich?
Schon wieder mache ich eine Pause, nachdem ich vielleicht drei oder vier Kilometer gefahren bin. Ich befinde mich am Canal du Midi, es ist ruhig, auf der gegenüberliegenden Uferseite befand sich lange ein kleiner Eisvogel, es ist der zweite innerhalb von zwei Wochen. Ich hoffe, dass mit dem Einchecken im Hostel am Nachmittag alles gut klappt, damit ich mir noch die Stadt anschauen und mich entspannen kann. Morgen möchte ich bis nach Carcassonne radeln. Ich habe ein kleines Bild der Novene zu Unserer Lieben Frau von Lourdes. Wenn es gut läuft, werde ich dort am Sonntag sein.
17:12 Uhr – Béziers
Es ist ein Abenteuer. Jetzt befinde ich mich vor der Pilgerherberge und warte auf den Menschen, der mich einlässt. Der Tag war in Summe facettenreich – ich bin froh “nur” bis nach Béziers gefahren zu sein. Die Straße wo ich auf den Einlass warte ist viel befahren – aber welche Ansprüche kann ich als Pilger haben? Was ist meine Würde als Mensch? Autos befinden sich hier überall, die Leute scheinen sich gerne abgeschottet von ihrer Umwelt in einem Käfig die meiste Zeit im Stau zu befinden. Mir gefällt die Altstadt hier – man spürt, dass sich Béziers im Umbruch befindet, dass wie überall auf der Welt die Transformation sichtbar ist und manche Dinge schlichtweg Zeit brauchen. Vorhin erhielt ich meinen ersten Stempel im Pilgerpass in der Kathedrale Saint-Nazaire. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dort standen ein Mann und eine Frau mit Kärtchen, sie verhielten sich passiv, doch dann sprachen sie mich an – ich erhielt den Stempel und mir wurde die Pilgerherberge samt der Telefonnummer gezeigt. Nun hoffe ich, dass es funktioniert mit der Übernachtung und dass ich bei all dem Lärm den wichtigen Schlaf finden kann. Was zeichnet einen Pilger aus, warum begibt man sich auf den Weg, was ist der Antrieb und die Motivation? Die Leute bewegen sich alle fort im Raum-Zeit-Gefüge, aber in welche Richtung ziehe ich? Ich freue mich, wenn ich in einer guten Woche Ma. sehe, ihre Hand halte, ihren Atem höre, ihren Herzschlag spüre, gemeinsam mit ihr verschmelze und einfach bin. Doch noch existiert da diese räumliche Distanz zwischen uns, noch bin ich auf mich alleine gestellt. Vermeintlich. Denn ich weiß, dass ich geführt werde, dass meine Gebete erhört werden, dass mich Engel begleiten und all die mir wichtigen Menschen mit mir an meiner Seite gehen. Ich darf darauf vertrauen, dass die richtigen Dinge geschehen, dass sich abseits des Sichtbaren kontinuierlich Hebel und Rädchen bewegen, damit sich die Sachverhalte fügen und alles im Einklang ist. Südamerika ist nun weit entfernt, ich darf hier in Europa Wurzeln schlagen und meine Flügel weiter ausbreiten. Ich darf einfach sein. Ich darf gehen Schritt für Schritt und sehen, was noch nicht in der Realität existiert. Gott ist bei mir. Das weiß ich. Gott hört mir zu und er schaut auf mich, er schützt und behütet mich. Er gibt mir Kraft, wenn ich zweifle und er leitet mich, wenn ich hadere. Er fängt mich auf, wenn ich falle und er breitet…
Auf dem GR78 – Freitag, 26. Januar 2024
19:43 Uhr – Carcassonne
Endlich liege ich im Hostelbett in einem 4-Bettzimmer alleine. Auf dem Weg sah ich in Argens-Minervois ein sehr schönes Bed-and-Breakfast, eine Epicerie und einen Fahrradladen – das alles sehr idyllisch an einem Kanal gelegen. Es war allerdings vielleicht 13:00 Uhr und ich wollte das Fahren noch nicht beenden. Lange machte ich mir wieder selbst Stress. Doch auch heute dachte ich des Öfteren an die Worte Renés, dass Zeit am Wichtigsten ist. Es ist ein besonders wertvoller Impuls, der mich den gesamten Weg begleiten wird. Die Strecke – vorwiegend am Canal du Midi war bis auf einen kurzen Abschnitt vor und hinter Capestang landschaftlich schön und reizvoll. Capestang habe ich angesteuert, weil der GR78 – Chemin du Piedmont pyrénéen – Wander-, Pilgerweg von Béziers aus selbige Stadt als folgendes Etappenziel aufgeführt hat. Im Zentrum ging ich in die Collégiale Saint-Étienne, es war eine besondere Stimmung, ich zündete eine Kerze an, gleichzeitig wurde ich mir bewusst, dass ich in Kirchen nicht ausschließlich finden kann, was ich in der Welt nicht finde. Dort hielt ich Ausschau nach einem Pilgerstempel, doch es war keiner vorhanden und ansonsten auch keine Aushänge bezüglich dem Pilgern oder dem Jakobsweg. Es ist nicht das Gleiche, im Januar unterwegs zu sein wie im April. An ein paar Stellen werden Rad- und Fußwege am Ufer des Kanals aufgrund von Bauarbeiten “offiziell” gesperrt. Im Regelfall gibt es allerdings doch immer Möglichkeiten, diese zu kreuzen. An einer Stelle – es war gute 20 Kilometer (vermutlich eher 30) vor Carcassonne – war plötzlich der Weg mit Schildern gesperrt, ich fuhr weiter mit meinem Ziel fest im Blick, drei Bauarbeiter standen dort und riefen mehrmals laut “Route barée” und wedelten leicht theatralisch mit ihren Armen, so dass ich doch bitte umkehren solle. Aber so einfach ließ ich mich nicht abwimmeln. Sollen sie mir doch Auskunft geben, wo die Umleitung ist, wie weit es ist etc. Sie weisen auf die rund 100 Meter entfernte Straße und sagen dort geht es lang, dann mustern sie mich genauer, fragen mich, woher ich komme und wohin ich gehe, was mein Tagesziel ist und dann sagen sie plötzlich, ich solle ihnen folgen. So schiebe ich also mein Rad, an einer winzigen Stelle auf einer Länge von knapp 2 oder 3 Metern muss ich also über ein recht schmales Betonteil mit dem Rad. Dann meint der eine von ihnen noch, um 16:00 Uhr sei ich in Carcassonne, es dauere nicht lange. Doch bereits da schwant mir, dass er mich ermutigen möchte (was auch funktioniert), dass die Wahrheit allerdings eine andere ist. Es gibt viel Gegenwind, minimal geht es aufwärts, die Wege sind weitestgehend mit Kies bedeckt, immer wieder gibt es Abschnitte, auf denen geschoben werden muss (zumindest wird es empfohlen), oder Schilder fehlen exakt an den Stellen, da sie am wichtigsten wären. Bereits wie ich mich am Morgen nach dem Schließen der schweren Eingangstüre der Gîte Bon Camino auf den Sattel setze spürte ich meinen gesamten Körper – doch insbesondere mein Gesäß. Es ist immer ein wunder Punkt, das war es schon auf jeder Radreise. Bei den vielen Kilometern im Sattel spürt man früher oder später noch die Oberschenkel, eventuell die Knie oder die Füße, die Handflächen, die Schultern, den Nacken und den oberen Rücken. Okay, ich war bereits vor der Tour schon recht stark verspannt. Dann entdeckte ich – es war 17:00 Uhr – in Trèbes eine Gîte mit dem Fahrradlogo, mit einer Pilgermuschel am Gartentürchen, es ist ein sehr schönes Schleuserhäuschen unmittelbar am Kanal. Ich wähle die Telefonnummer inklusive der 0033-Vorwahl für Frankreich, direkt meldet sich ein Mann, ja es ist ein Zimmer frei für eine Nacht, was es koste, da kommt er aus dem Garten auf mich zu, wir beenden beide das digitale Gespräch, der ältere Herr meint zu mir – Quatre-vingt plus cinq pour le petît-dejeuner. Das ist mir dann doch deutlich zu viel, so gut kann ein Zimmer oder eine Unterkunft in meinen Augen gar nicht sein, wenn ich dafür 80 Euro zahlen soll. Okay, wenn es ein Wellnesspaket, ein reichhaltiges Abendessen und Frühstück, eine umfangreiche Getränkeauswahl samt Weinverkostung und eine Sauna gäbe, dann würde ich es mir überlegen. Er fragt mich, was ich denn zahlen möchte, ich sage maximal 40 Euro, es seien drei Sterne und es ist die einzige Gîte vor Carcassonne. Er hat dort seine Nische gefunden und nutzt dieses Alleinstellungsmerkmal oder Privileg meiner Meinung nach nun aus. Letztlich ist er dann doch hilfsbereit, erklärt mir, wie ich zu einem mehr oder weniger nahen Hotel (Kette an vielbefahrener großer Straße was für mich ein absolutes No-Go ist) komme und wie die Jugendherberge in Carcassonne heißt. Wie lange bräuchte ich bis dorthin – eine knappe Stunde – wie lange ist es in etwa hell – eine knappe Stunde und es könne sein, dass es am Kanal noch eine Sperrung durch eine Baustelle gebe. Alles an mir hat sich bereits auf Seife und eine angemessene warme Dusche, frische Kleidung und eine Pizza gefreut. Aber nichts da, ich muss in den sauren Apfel beißen und weiterfahren. So plündere ich also meinen Müsliriegelvorrat, esse ein paar Hand voll Studentenfutter um noch etwas Kraft zu erhalten und strample dann in der vor mir tief stehenden Abendsonne durch die kühler werdende Luft am Ufer über Kies und Wurzeln unter dem ewig langen Schatten der im gleichmäßigen Abstand stehenden Bäume. Ich buche ein Hostel im Stadtzentrum, damit ich die Garantie habe, dort einen Schlafplatz und einen festen Ort ansteuern zu können. Einfach weiter am Kanal entlang, bis ich irgendwann unter den Bahngleisen durchfahre und dann auf der Straße vor dem Bahnhof nach links abbiegen und dort nach drei Querstraßen nach rechts muss. Das merke ich mir, um nicht dauernd auf mein Smartphone zu schauen und zu wissen, dass der Akku notfalls auch ausgehen kann. Jetzt liege ich also im Bett, in ein paar Minuten werde ich das Licht ausschalten, noch einmal Arnica-Kügelchen (geringe Dosierung) nehmen, die “Peacemaker” in meine Ohren stecken, mir die Decke über den Kopf ziehen und versuchen zu schlafen. Ich habe nur bedingt Lust morgen weiterzuziehen. Zwingt mich jemand dazu? Das Hostel wo ich bin hat im Erdgeschoss eine große Bar mit Livemusik, das Zimmerfenster geht Richtung Innenhof, ich höre die lauteren Stimmen der Gäste. Ich muss nicht noch eine zweite Nacht hier bleiben. Fest steht allerdings, dass ich es morgen Vormittag ruhiger angehen lasse und mir maximal 60 Kilometer vornehme. Vielleicht vertrete ich mir auch die Beine und erkunde das historische Zentrum samt einer oder zwei Kirchen. Ich darf einfach darauf vertrauen, dass ich automatisch die richtigen Entscheidungen treffen werde.
Cristo Redentor auf dem Zuckerhut – Samstag, 27. Januar 2024
13:52 Uhr
An einem herrlichen Platz sitze ich nun auf einer Anhöhe barfuß im Schneidersitz auf meinem dunkelblauen Sherpa-Oberteil. Ein Raubvogel kreischt, ein Vogel zwitschert und eine Wespe summt. Mein Füllfederhalter auf dem Papier macht zudem Geräusche. Wo ich heute Nacht schlafen werde – ich habe nicht den blassesten Schimmer. Ich kam an drei oder vier Gîtes mit der Pilgermuschel an der Türe vorbei. Vier Stunden ist es noch hell.
14:05 Uhr
Gerade kam eine ältere Dame mit (vermutlich) ihrem Enkelsohn vorbei, sie laufen den Teil auf dem GR78 immer von Brézilhac bis nach Fanjeux um einen Kaffee zu trinken und dort etwas zu essen. Nicht viele Leute sind um diese Jahreszeit unterwegs. Wieder muss ich mich entscheiden, ob ich weiterfahre oder noch schreibe. Zu verlockend allerdings dieser Platz, der Orangensaft, der Ziegenkäse und das frische Campagnarde-Baguette vor mir. Notfalls verbringe ich die Nacht hier. Die Pyrenäen in der Ferne sind bezaubernd, gleichzeitig schüchtern sie mich ein, da ich weiß, dass ich sie früher oder später queren muss, wenn ich nach Spanien möchte. Hinten an meinem breiten Schutzblech habe ich nun den Pilgeraufkleber befestigt, damit die Leute auch sehen, was der Grund dieser Reise ist.
In Montréal de L’Aude erhielt ich den ersten Stempel des Tages. Tatsächlich gestaltet sich das gar nicht so leicht, da ein Großteil der kleineren Kirchen geschlossen ist und ohnehin am Wochenende Rathäuser und Informationszentrum nicht geöffnet haben. In der Stiftskirche Saint-Vincent von Montreál hatte ich dann Glück, in der Nähe des Altars traf ich auf eine Frau, sie tätigte einen Anruf und begleitete mich dann gen Rathaus mit den Worten, dass ich dort erwartet würde. Gute fünf Minuten später erschien dann nicht der Bürgermeister höchstpersönlich, sondern ein Polizeiinspektor, er gab mir den Stempel, wieder musste ich noch um das Datum bitten. Anschließend ging ich in den Salon de Thé & artisanal brésilien “OBA” direkt neben dem Pilgerweg. Dort lud mich der Brasilianer Raimundo auf einen kleinen Kaffee und einen Café au Lait ein. Nicht wirklich, ich bestellte sie, doch am Ende sagte er, es würde nichts kosten. Als Ausgleich kaufte ich ein schönes Ledergeldmäppchen für 10 Euro aus Brasilien mit dem Zuckerhut und dem Cristo Redentor sowie RIO. Man weiß nie, wie das Schicksal spielt. Dort entschied ich mich dazu, nicht mehr meiner digitalen Navigation sondern den perfekt ausgezeichneten GR78-Wegweisern zu folgen. Ich orientiere mich also an den weiß-roten Markierungen oder den gelben. Wenn unten links ein zusätzlicher Balken ist bedeutet es, dass es an der Weggabelung nach rechts geht. Im Regelfall sind an jedem Laternenmast oder Pfeiler Xe angebracht, um noch einmal eine zusätzliche Sicherheit zu haben, dass der Weg dort nicht langgeht.
17:53 Uhr – Mirepoix
Direkt angrenzend an die Kathedrale befinde ich mich in einer ausgesprochen schönen Unterkunft. 25 Euro ist der Preis pro Nacht inklusive Frühstück. Ich bin froh, dass ich diese Unterkunft gefunden habe. Es dauerte allerdings ein kleines Wenig. Mit dem Rad steuerte ich unmittelbar das Zentrum an und sah dann wieder am Altar (beziehungsweise in der Nähe) drei ältere Menschen, die dort die Vorbereitungen für den abendlichen Gottesdienst tätigten. Ich sprach den älteren Herren an, ob er wisse, wo es eine Unterkunft gäbe, wir verließen das sakrale Gebäude durch eine Seitentüre und er zeigte mir an einer Aushangtafel (vermutlich vor der Pfarrei) die Nummer einer Unterkunft. Ich wählte sie, prompt meldete sich auch eine Dame, sie befindet sich allerdings in Paris und vermittelt mir eine andere Gîte. Nur ein paar Meter entfernt steht also das schöne B+B-Gebäude, auch dort wähle ich die Telefonnummer, nach etwas warten meldet sich wieder eine Frau, sie befindet sich noch im Auto, könne mir aber den Türcode geben, ich kann in das Zimmer, mein Rad in den Gang stellen und mich einrichten. Perfekt. Ich verzichte auf die warme Mahlzeit, ich habe noch eine Packung Mandeln, 80-prozentige Schokolade (eine ganze Tafel), Käse und Baguette. Einen heißen Tee habe ich mir gemacht. Auch hier gibt es Bücher und kleine Essenssachen, an denen ich mich bedienen könnte. Gefühlt begegnete ich heute recht vielen Leuten, ich werde offener, vielleicht liegt es an dem Aufkleber, den ich an meinem Rad befestigt habe oder schlichtweg an dem Mut.
Ein Glas Rotwein bei Kerzenschein – Sonntag, 28. Januar 2024
17:44 Uhr – Castillon-en-Couserans
Nun sitze ich also in der Helligkeit mit vor mir brennendem Kerzenlicht, einem Glas Rotwein aus der Plastikflasche und meiner warmen Mahlzeit von gestern und heute – ein Baguette mit Ziegenkäse belegt, in der Mikrowelle eine Minute lang erhitzt, viel Knoblauch, Salz und Pfeffer hinzugefügt – am Tisch in der kleinen Gîte. Wenn ich ausatme sehe ich die Luft. Jetzt hat es draußen 13 Grad Celsius, auch wenn es hier drinnen deutlich kühler sein muss. Fünf Warmshower-Hosts habe ich gestern Abend noch angeschrieben, einzig einer hatte mir abgesagt. So musste ich also ins Unbekannte fahren. Nein, es ist nicht die optimale Jahreszeit für eine Pilgerreise. Aber mittlerweile fühle ich mich etwas fitter, eventuell werde ich die 121 Kilometer bis nach Lourdes morgen schaffen. Wobei die 2.150 Höhenmeter schon recht happig sind. Heute waren es 1.380 Höhenmeter bei 94,5 Kilometern. Es gibt Schlimmeres. Der Tag war prächtig, jeden Tag möchte ich aufschreiben, dass es mein schönster Radtag des Lebens war. Weil es der Wahrheit entspricht. Am Morgen verließ ich um 08:30 Uhr die Unterkunft. Der erste Mensch den ich sah war der ältere Herr, der mir gestern bei der Suche der Schlafmöglichkeit half. Wieder verließ er die Kathedrale über den Hinterausgang, erblickte mich, und wie ich die Satteltaschen am Gepäckträger befestigte stand er auch schon mit einem Staubsauger in der Hand neben mir, strahlte mich an und fragte wie ich geschlafen habe, wünschte mir eine gute Reise, wir schüttelten uns die Hände und er zog freudig pfeifend von Dannen.
18:27 Uhr
Den einzigen Pilgerstempel des Tages habe ich mir hier vorhin selbst gegeben und mit Datum versehen. Vermutlich ist das nicht im Sinne des Erfindenden gewesen aber die Alternative wäre halt kein Stempel an diesem Sonntag gewesen. Ich habe mich ins Bett zurückgezogen, unten war es mir schlichtweg zu kalt. Ich liege im Schlafsackinlay mit drei dicken Decken darüber, glaube allerdings, dass ich noch für Nachschub sorgen muss. Ich habe ein Glas Wasser mit einem gehäuften Teelöffel Natron in einem Zug getrunken (es schmeckt abscheulich) und danach einen Schluck Rotwein ergänzt. Dass ich heute nicht geduscht habe stört mich nicht sonderlich – gleichzeitig sehne ich den Tag herbei, wenn ich Wäsche waschen, mein Rad reinigen und auch zum Friseur gehen kann. Das Bicarbonat wurde mir das erste Mal in Ecuador empfohlen, nachdem ich recht ausgelaugt vom Cerro Imbabura kam. Ich hoffe, dass sich meine Energie in den kommenden Stunden regeneriert, damit ich das Werk des morgigen Tages erfolgreich vollbringen kann. Marseille erscheint mir eine Ewigkeit entfernt weg. Immer wieder hatte ich heute die Stationen Lourdes – Saint-Jean-Pied-de-Port – Pamplona und Santiago de Compostela im Kopf. Zudem dachte ich an Portugal, Marokko und Andorra. Die Zeit wird die Antworten bringen.
Der Col de Portet d’Aspet – Montag, 29. Januar 2024
20:46 Uhr
Wieder ist der Tag im Flug vergangen. Ich habe es nicht bis Lourdes geschafft, es war schlichtweg zu haarsträubend. 30 Kilometer “fehlen” mir noch bis dahin, doch was bedeutet “fehlen”? Die Nacht war kurz, ich konnte nicht wirklich schlafen, am Morgen in der Dunkelheit von Castillon-en-Couserans schälte ich mich um 06:45 Uhr aus dem Bett. Es kommt mir Ewigkeiten her vor. Was wird morgen geschehen? Meine Lippen und mein Gesicht brennen, vermutlich war der Aufstieg auf den Col de Portet d’Aspet auf 1.069 Höhenmeter doch happiger.
Schwarze Buchstaben auf weißem Grund und rot umrandet: LOURDES – Dienstag, 30. Januar 2024
19:32 Uhr – Oloron Sainte-Marie
Endlich bin ich in Lourdes gewesen. Ich bin müde vom Tag, um 10:00 Uhr verließ ich mein 90 Euro Appartement in Bagnères-de-Bigorre und fuhr dann auf fast gar nicht befahrenen Landstraßen durch Wiesen und Felder durch hügeliges Terrain. Definitiv hätte ich es gestern nicht mehr bis nach Lourdes geschafft. Selbst heute zog es sich und wieder waren da die kleineren giftigen Anstiege. Dann plötzlich ein Ortsschild mit schwarzen Buchstaben auf weißem Grund und rot umrandet: LOURDES. Unerwartet aus dem Nichts – der Siedlungsrand eher unschön – ein Wohngebiet bäuerlich geprägt. Ich dachte es wird spektakulär, der Gesamteindruck gefiel mir eher weniger, im Zentrum Cafés mit in der Mittagssonne sitzenden Menschen, doch irgendwie wollte ich schnellstmöglich die Stadt verlassen. Dann fuhr ich durch die Nachbarschaft in denen jedes fünf- bis achtgeschossige Gebäude ein Hotel war. Überall deren Namen und Sterne, ich glaube, ein Großteil war geschlossen. Dann Cafés und Touristenläden, ich hielt kurz an, um einen Magneten für meinen Spiegel zu kaufen. Ich wählte einen der kleinsten, er gefällt mir. Dann ein paar Touristen, ich bog nach links ab, es geht einen leichten Berg hoch und auf der rechten Seite die Basilika Notre-Dame-du-Rosaire. Soll ich anhalten? Nein, immer noch will ich schnell weiter, wieder in die Stille der Natur, zum Wasser, weg von den Menschen. Warum fahre ich bis nach Santiago, warum mache ich diese Pilgerreise, bin ich Christ, wer bin ich als Mensch, warum wollte ich unbedingt nach Lourdes gehen? Ich habe keine wirklichen Antworten. Auf die Frage ob ich Christ bin spüre ich am Nachmittag im Sattel, dass ich “schlichtweg” ein Mensch bin. Ich muss mir keine besondere Bezeichnung geben oder denken, dass ich durch das Christ-Sein besser wäre. Ich bin ich mit allen meinen Makeln, Fehlern und Schwächen. In der Nacht wachte ich einmal auf, ich war schweißgebadet, doch danach war ich ruhiger, ja Frieden war in mich und in meinen Körper gekehrt. Gestern Abend nach der warmen Dusche mit Tee, Porridge und einem kleinen trockenen Restbaguette im Magen wie ich mit Ma. und danach mit meiner Mutter telefoniert hatte war ich einfach nur abgrundtief erschöpft. Ich lag im Bett mit geschlossenen Augen, das Teelicht brannte, ich schlief nicht aber ich hatte auch keine Gedanken im Kopf, da kam mir ein Bild oder eine Szene sehr natürlich ins Bewusstsein. Es waren in reinem weiß gekleidete Menschen, sie strahlten alle voller Licht und Erhabenheit, es waren Jesus-Menschen oder Christus-Menschen. Sie gingen wertschätzend, ehrlich, würdevoll und aufrichtig miteinander um, gingen erhobenen Hauptes und voller gesundem Selbstvertrauen. Diese Szene war kraftvoll und vollkommen selbstverständlich. Jetzt hier frisch geduscht alleine in dem Centre nautique de Soeix am Ufer des Gave d’Aspe spüre ich das Licht und den Frieden. Ich komme mir gereinigt vor. Am achten Tag Rad fahren in Folge merke ich, wie meine Beine sich nicht nur an die Belastungen gewöhnt, sondern auch an Kraft gewonnen haben. Das bedeutet nicht, dass Momente in denen ich das Rad wegwerfen wolle oder verdamme es nicht mehr gibt. Aber ich habe mich darauf eingestellt sechs bis acht Stunden im Sattel zu sitzen. Der Tag war wunderbar. Nach Lourdes war recht unspektakulär. Um Stempel zu erhalten gehe ich jetzt auch in Rathäuser. Nicht immer gibt es Touristeninformationen, Cafés oder andere Einrichtungen. In dem Rathaus in Sainte-Colome da ich heute war saßen zwei Angestellte – eine Frau und ein Mann – sie lächelten mir zu beim Abschied, beim Verlassen des Raumes fiel mein Blick auf das Portrait des Präsidenten Emmanuel Macron. Morgen werde ich also in Saint-Jean-Pied-de-Port sein. Das steht außer Frage. Den Inharpu-Pass werde ich bezwingen.
Der gelbe Pfeil – Mittwoch, 31. Januar 2024
21:44 Uhr – Saint-Jean-Pied-de-Port
Morgen geht es also so richtig los auf dem Pilgerweg. Was wird mich erwarten, welche Begegnungen habe ich, wird mein Körper den Strapazen standhalten? Wieder Fragen über Fragen, die Erlebnisse prasseln auf mich ein.
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