983 Days of Writing aka „Der kleine Traum“
Als Fortsetzung des Artikels „365 Days of Writing – The Stats“ unternehme ich nun den Versuch, einen zweiten Anfang zu wagen. Es ist Mittwoch, der 29. Mai 2024, oder auch Perpetuum-Tag no. 1.014. Das Gestern ist bereits seit Ewigkeiten Vergangenheit. So bleibt mir einzig der Moment um kontinuierlich die Zukunft zu erschaffen. Denn selten entsteht das Neue ohne Planung oder Wagnisse.
Oft schon hat mich meine Fantasie in unbekannte surreale Welten entführt, ohne dass in der Realität auch nur annähernd etwas Signifikantes und Erwähnenswertes geschehen wäre. Wo also fange ich an? Wie gestalte ich richtig? Wie kann ich mir das Wahre und Einzigartige nicht nur aus den Fingern ziehen, sondern es aus der Essenz aus mir heraus strömen lassen? Wie gehe ich meinen Weg ohne nachzudenken? Wie erhebe ich mich und wie setze ich mich? Wie denke ich im Einklang mit dem Zeitgeist? Wie lasse ich los und bleibe mir dabei doch selbst treu? Wohin steuere ich und wohin richte ich meine Aufmerksamkeit? Was lasse ich auf einem weiteren neuen weißen Blatt Papier aufleben und sich Stück für Stück auf dem blauen Planeten manifestieren?
Ich habe den Versuch unternommen zu schreiben. Eventuell habe ich 983 Male wieder aufgehört und 984 Male wieder angefangen. In Wahrheit werden es jedoch unzählige Male mehr gewesen sein. 983 Tage sind in der Theorie 23.592 Stunden. In meinem Fall sind es 1,45 Millionen Wörter, 8,5 Millionen Zeichen exklusive Leerzeichen oder 6.229 Seiten. 983 Tage sind in der Theorie 100 Millionen Herzschläge. In meinem Fall sind es 21,193 Kilometer Füllfederhaltertintenaneinanderreihungen.
983 Tage sind mehr als ein Versuch. In meinem Fall sind es 26 Bücher und 30 Beiträge.
Was beispielsweise sehe ich, wenn ich mein Fahrrad betrachte? Ich sehe Handarbeit, Möglichkeiten und kontinuierlich freie Fahrt, ich sehe das Nordkap und Australien, Barcelona und Athen, Marseille und Santiago de Compostela. Ich sehe eine Innovation und eine Antwort. Ich sehe mehr als nur ein Objekt der Begierde. Ich sehe eine Botschaft und einen Weg.
Wenn ich das Halsband mit der gestanzten silbernen Pilgermuschel in der Hand halte fühle ich mehr als nur diesen Gegenstand. Ich spüre den Jakobsweg wieder in meinen Beinen und erinnere mich an jede einzelne Begegnung, an die Sonnenaufgänge und an den Gegenwind. Dann bin ich wieder in O Cebreiro und an den Granitsteinen am Kap Finisterre und in Muxía mit den Kilometermarkierungen 0,00. Ich trage die Querung der Pyrenäen und die Einfahrt nach Pamplona, den Moment des Schiebens nach Galizien und den zauberhaften Strand im Morgenlicht an der Algarve in mir. Ich meine wieder zu glauben mit meinen kleinen unbedeutenden Tretumdrehungen die Welt zu bewegen. Zumindest ein kleines Bisschen.
Und wenn ich auf meinem Fahrrad sitze und dann noch den Füllfederhalter samt einem Notizbuch mit mir trage, dann finde ich meinen Segen auf Erden. Dann weiß ich aus Erinnerung schreiben zu können wie es ist, zwei Mal auf dem Sattel auf bescheidenen Wegen die älteste Stadt Frankreichs zu befahren oder zu wissen, warum in Lissabon so wenige Radfahrende unterwegs sind.
Wenn ich ein Notizbuch erblicke, dann erscheint mir da, was einst „Those Seven Train-Rides“, „Meine Morpho-Smaragdkolibri-Turteltaube“ oder „The Essence of Writing“ war. Wenn ich die Kappe des Füllfederhalters abschraube oder abziehe und die Füllfederhalterspitze auf das Papier setze, eröffnet sich mir eine neue Welt. Dann verabschiede ich mich von jedweden Normen und Grenzen, dann breite ich meine Flügel aus. Dann schließe ich die Augen und dann beginnt mein Flug. Beizeiten kann dieser Sachverhalt ausgesprochen praktisch sein. Denn ich kann mir einfach so ein gutes Raumschiff bauen, damit zum Mars vordringen und eine Ortsbegehung durchführen. Oder ich verwandle mich in eine Postkarte, lasse mich an Adresse X in Stadt Y und Land Z schicken, in einen Briefkasten einwerfen und befinde mich dann in einem Bankinstitut. Dort werde ich wieder lebendig und kann mit zwei Packsäcken voller Banknoten mit erhobener Brust und einer weißen Weste wieder hinausmarschieren.
Wenn ich den Füllfederhalter in der Hand halte, dann ist alles möglich. Dann gibt es niemanden, der sagt, dass etwas nicht möglich sei. Ich kann jeden toten Menschen wieder auferstehen lassen und jede Person ins Gras beißen lassen. Ich kann mit einem guten Text einen Krieg beenden. Ich kann vertrauen kommunizieren und Heilung geschehen lassen.
Warum also mache ich es nicht einfach?
Viel zu oft stehen wir uns selbst im Weg. Wir stolpern über Glaubenssätze, die uns nicht dienlich sind oder verkaufen uns unter oder über Wert. Wir streben nach einer Utopie doch verlieren dabei aus dem Blick, was sich unmittelbar im Jetzt bei uns befindet. Wir verlangen nach etwas ohne dankbar zu sein für das was wir haben. Wir sehnen ein Wunder herbei ohne dabei das Wunder bereits erkannt zu haben. Wir stellen Forderungen ohne uns selbst herauszufordern.
Doch irgendwie muss und wird es immer weitergehen. Das Jahr 2024 ist einzig ein kleines Puzzlestück einer unendlichen kosmischen Geschichte. Ein kleiner Traum kann der Same eines Mammutbaumes und schon in kurzer Zeit dem Himmel ganz nah sein. Ein kleiner Traum kann nichts weiter bleiben als ein kleiner Traum. Er kann als Hirngespinst abgetan und beerdigt werden. Zugleich kann ihm Leben eingehaucht und gehen beigebracht werden. Er kann groß, größer und noch größer gedacht und realisiert immer tiefer ins kollektive Unterbewusstsein der Menschheit einfließen und Maßstäbe verändern. Ein kleiner Traum kann bereits in einem Jahreszeitenzyklus zu einem Wachstumskonglomerat der größeren Sorte emporgestiegen sein. Ein kleiner Traum kann die Spielregeln mitgestalten und umschreiben.
Möglicherweise kann der kleine Traum eine ausgesprochen schwarze Nacht im Louvre in Paris mit einer Kerze verbringen und dort all die Farben der Meisterinnen und Meister klauen, sie in seine Tasche stecken und bei Anbruch des Sonnenlichtes das alles verändernde zeitlose Werk erschaffen. Der kleine Traum kann Suchende und Zweifelnde an die Hand nehmen und ihnen Chancen eröffnen. Der kleine Traum kann sich selbst vertrauen. Er kann entscheiden, ob er ein kleiner Traum bleiben möchte. Dieser kleine Traum kann sich selbst sagen, dass er zeitlebens nichts weiter als dieser kleine Traum bleiben wird. Er kann sich immer wieder einreden, dass er schlichtweg als kleiner Traum geboren und aufgrund gewisser Umstände nicht dazu bestimmt wurde, zu einem Traum der größeren Sorte heranzuwachsen. Der kleine Traum kann in der Poets‘ Corner in London verweilen und dort externe auf einen Thron gehobene Genies sehen. Er kann sich selbst immer klein halten.
Der kleine Traum kann auf seine beiden Hände blicken und nicht wissen, was er damit anstellen soll. Er kann aufgeben und von einem Unwetter weggetragen werden. Er kann sich verstecken und im Schatten aufhalten. Er kann sich von seinen Ängsten und von seiner Unsicherheit steuern lassen. Ein kleiner Traum kann sich immer wieder die gleichen Fragen stellen. Ein kleiner Traum kann in seinen Gegenübern nichts als kleine Träume sehen. Er kann sie in seinem Kopf und durch sein Handeln noch weitaus kleiner werden lassen. Ein kleiner Traum kann keine Lust und davon ganz schön viel haben. Ein kleiner Traum ist arm und hilflos.
Doch der kleine Traum besitzt in jedem einzelnen Atemzug die Entscheidungsmacht, ob er ein kleiner Traum ist und ob er ein kleiner Traum bleibt. Ein kleiner Traum hat die Freiheit sich von Normen und Vorgaben in seinem Handeln einschränken zu lassen. Ein kleiner Traum kann stets Ausreden und Gründe finden.
Des Nachts wird er sich jedoch wach im Bett wälzen und diese Sehnsucht gleich einer ausgesprochen starken magnetischen Kraft in seinem Herzen spüren. Er wird all seine größeren Träume und Visionen aufschreiben. Er wird sie nicht nur ein Mal aufschreiben, sondern sie in einer jeden freien Minute seines Seins wieder ins Bewusstsein führen. Er wird sich seine Schuhe anziehen und seinen Rucksack schultern und hinaus in die Ferne ziehen. Er wird sein Herz verlieren und es wieder finden. Er wird an Kreuzungen nicht wissen, in welche Richtung er gehen muss. Manchmal mag er sich wünschen, dass alles anders wäre. Aber er wird sich auf dem Weg befinden.
Sein Herz singt eine Melodie des Universums, sein Selbst ist in die Höhe gestrebt und sein Sein hat sich fest mit der Erde auf der er sich bewegt verwurzelt. Wo auch immer er stehen mag werden sich seine Füße fest mit dem Boden verankern. Er wird das Gute und das Reine erkennen. Er wird nur marginal lesbar sein. Ein Traum wird früher oder später einmal Theaterstunden nehmen oder einen Improvisationskurs besuchen – was jedoch auf dasselbe hinausläuft. Ein Traum wird vergessen haben, dass er einst ein kleiner Traum war. Ein Traum wird wachsen und atmen, lernen zu lieben und annehmen. Ein Traum wird reisen und entdecken. Er wird Menschen aller Couleur kennenlernen. Ein Traum wird gemeinsam mit anderen Träumen Zeit verbringen. Er wird kleinen Träumen Lösungen zeigen und ihnen große Gemälde der Zukunft malen. Ein Traum wird niemals müde zu träumen. Ein Traum möchte darum bestrebt sein, selbst den Grund der Dinge in Erfahrung zu bringen. Ein Traum ist wissbegierieg. Ein Traum kennt die Nationalbibliotheken dieser Welt. Ein Traum gibt nicht auf. Ein Traum hat Hunger. Ein Traum muss Tage haben, an denen er hungrig einschläft. Ein Traum wird lernen, sich nicht aus seiner Mitte bringen zu lassen. Ein Traum muss sich neue Kompetenzen aneignen, doch tief in sich weiß er, dass es am wichtigsten ist, wenn er sich dabei stets auf das Wesentliche konzentriert. Ein Traum muss enttäuschen, um falsche Annahmen aufzulösen. Ein Traum muss die Stille als Verbündeten angenommen haben.
Ein Traum wird zu einer Orientierung und zu einem Türöffner werden. Er ist nicht länger Flaschenhals sondern ein Meister der Magie. Ein Traum wird je nach Kostüm in Gänze unscheinbar oder ausgesprochen nahbar sein. Ein Traum wird letztlich nicht aus Kalkül handeln. Manchmal mag es erscheinen, als würde er das tun, im Endeffekt geht es ihm jedoch einzig darum, seinem Namen und seiner Bestimmung gerecht zu werden. Ein Traum wurde lebendig. Ein Traum wird sich verselbstständigt haben. Er wird in Zeitungen und Schaufenstern aufzufinden sein. Ein Traum wird wissen, wie er exponentiell wachsen kann. Er wird sich in Jahreskalendern und auf Postkarten, auf Tassen und an Leinwänden sehen. Ein Traum wird ein ausgesprochen guter Verbündeter des Todes sein. Er mag vermeintlich wagemutig oder tollkühn erscheinen. Doch ein Traum musste lernen, sich selbst zu finden und er selbst zu sein. Ein Traum hat keine Alternative. Ein Traum muss genügen. Ein Traum wird gemeinsam mit Tauben und Zeppelinen geflogen sein. Ein Traum lebt. Ein Traum existierte bereits seit jeher. Ein Traum schreibt Geschichte. Ein Traum betet. Ein Traum fühlt. Ein Traum weint. Ein Traum fällt und ein Traum verzweifelt. Ein Traum meint in Phasen aufgeben zu müssen. Ein Traum wird in Albträumen Fratzen eines kleinen Traumes erkennen. Ein Traum wird enttäuscht werden. Ein Traum muss daran denken aufzugeben. Ein Traum muss meinen alles hinschmeißen zu müssen.
Wenn einem Traum die Imaginationskraft ausgeht, dann erschafft er sich in der Realität einen Wurzelholztisch und ein paar Stühle und setzt sich gemeinsam mit Carl Sagan, Albert Einstein und Jane Goodall an ebendiesen. Dann erhält er wieder die erforderliche Inspiration. Ein Traum hält sein Wort. Ein Traum trägt immer einen Stein in seiner Hosentasche. Ein Traum besucht gerne Friedhöfe und Parkanlagen. Ein Traum wird in Kathedralen und an Kraftorten in der Natur aufzufinden sein. Ein Traum zählt Sternschnuppen und erklommene Gipfel. Ein Traum kann Lagerfeuer machen und Gitarre spielen. Er kann einen Marathon laufen und sich einen Fisch angeln. Ein Traum wird sich zu einem gewissen Prozentsatz pflanzlich ernähren. Einem Traum ist es egal, wie viel Uhr es ist. Ein Traum schläft nicht dann wenn er müde ist, sondern dann, wenn er mit seiner Arbeit fertig ist. Ein Traum ist zeitlos. Einem Traum ist es gelungen, die insgeheimen Wünsche und Sehnsüchte von Myriaden von Menschen zu leben. Ein Traum kann eine Machete schärfen und einen Vertrag aufsetzen. Er kann schauspielen um eine gewünschte Wirkung zu erzielen. Ein Traum wird seine Ziele fest im Blick behalten. Ein Traum ging durch die Schule des Lebens. Ein Traum lernte von den Vögeln und von den Wolken, von dem Bachlauf und von den auf der Lichtung spielenden Sonnenstrahlen im Nebelfeld. Ein Traum ist unabhängig. Er geht aus eigenen Stücken Bande der Liebe und der Verbindung ein. Ein Traum hat Freundinnen und Freunde. Diese müssen nicht unbedingt real sein. Ein Traum weint, wenn er spürt, dass etwas ungerecht ist oder nicht mit rechten Dingen zugeht. Ein Traum trägt ein gesundes Menschenvertrauen in seinem Innersten. Ein Traum hat viele Vertraute. Ein Traum muss riskieren.
Ein Traum kletterte ohne Seil oder Schutzausrüstung Überhänge hinauf, da in der Höhe die Luft besser war. Ein Traum fuhr auf dem Highway im Geländewagen und trampte auf der Panamericana. Ein Traum stürzte auf dem nassen Asphalt mit seinem Fahrrad. Ein Traum wurde bedroht und beraubt. Ein Traum fiel in schwarze Löcher. Ein Traum fand den Glauben. Ein Traum ist bei Gott. Ein Traum ist die Stille inmitten des Orkans. Ein Traum durchbricht immer wieder eine neue Zweifelwand. Ein Traum ist bessessen. Ein Traum hat das Perpetuum Mobile in Gang gestoßen. Ein Traum kann Rudyard Kiplings Gedicht „If“ auswendig aufsagen. Ein Traum kann trotz Lampenfieber im Scheinwerferlicht ohne um den heißen Breis zu reden das Wesentliche einfach und klar strukturiert dem Publikum kommunizieren. Ein Traum kann kochen. Ein Traum lässt sich nicht von anderen Meinungen verunsichern. Ein Traum trägt die Landkarten der komplexesten Labyrinthe dieser Welt in seiner Jackentasche. Er kann sie lesen und in der Praxis anwenden. Ein Traum generiert Mehrwert. Er ist seines eigenen Glückes Schmied. Er versteht sein Handwerk.
Ein Traum dreht in seiner linken Hand eine Muschel entgegen des Uhrzeigersinns und sieht in ihr die göttliche Vollendung. Er kennt keine Feiertage. Ein Traum wird sich immer wieder fragen, wie im Detail Leonardo da Vinci dachte. Er versinkt für eine ungewisse Zeit in seiner Realität und agiert dabei frei im Fluss von äußeren Einflüssen. Er weiß was es bedeutet zu verlieren. Ein Traum schützt seine Energie. Ein Traum teilt und ein Traum gibt. Er hat in sich einst unvereinbare Gegensätze zusammengeführt. Durch seine Adern strömen Potentiale und der unbändige Drang nach mehr, nach Bewegung, nach Fortschritt und nach dem Wandel. Ein Traum kennt die vier Phasen im Leben eines Schmetterlings beziehungsweise im Leben einer Raupe.
Ein Traum kennt die alexandrinische Bibliothek so wie das Klementinum in Prag. Er zählt die Stufen der Türme die er emportsteigt. Er weiß, dass er niemals am Ziel sein wird. Das treibt ihn an und das macht ihn unverkennbar. Ein Traum hat Bäume gepflanzt und Zwiegespräche mit Engeln und Schutzbegleitenden geführt. Er liebt Ginkgo-Blätter.
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