Meine Remington Rand
Immer noch steht er da im Eck der Karton. Ich weiß nicht, wie oft ich bereits in Gedanken angesetzt habe, diesen Beitrag zu verfassen. Sicherlich sieben oder acht Mal. Ich habe mich so sehr darauf gefreut, diese Schreibmaschine endlich auszupacken und in den Händen zu halten. Aber nun ist bereits mehr als eine Woche verstrichen ohne dass ich den Mut gefunden hätte, dieses Vorhaben auch in die Tat umzusetzen. Andere Dinge stehen an, langsam bin ich angekommen, doch ich werde mir bewusst, dass jeder geografische Ort nur temporär ist.
Ich weiß, dass mich meine Schreibmaschine in Zukunft begleiten wird. Vermutlich werde ich sie am Ende wie Alma M. Karlin ihre Erika als mein wichtigstes Gut schützen und mit mir herumtragen. So muss es sein. So wird es aller Voraussicht nach sein.
Doch alles Schritt für Schritt in diesem Plädoyer für die Schreimaschine samt dem analogen Schreiben.
Wie alles begann…
Es ist Samstag, der 09. Oktober 2021. Am Morgen ging ich das erste Mal die 1.605 Stufen auf den Gipfel des Cerro de Monserrate im politischen und bevölkerungsstärksten Zentrum Kolumbiens. Ahnungslos erkunde ich gemeinsam mit der Mexikanerin das Nationalmuseum in Bogotá. Unzählige Exponate sind dort ausgestellt. Doch mein Hauptaugenmerk gilt zum Leidwesen von ihr nicht der Dame sondern einer Schreibmaschine. Ich bin wie verzaubert. Ohnehin ist das Zimmer in dem sie steht ein Paradies für Abenteurer und Entdecker. Ferngläser, Teleskope, Landkarten, Kameras mit Ledertaschen, katalogisierte Karteikarten und Landschaftsaufnahmen von Bergen entführen den Betretenden in andere Universen.
Diese funkelnde „Remington Rand“ gibt es einzig ein Mal. Zum damaligen Zeitpunkt ist die Schreibmaschine noch recht neu für mich. Glücklicherweise ist sie nicht ausgestorben, sondern trägt etwas Unbeschreibliches an sich, das auf Ewigkeiten Anerkennung, Leidenschaft und Zuspruch erhalten wird. Meine feinen Fühler waren stark ausgestreckt im Außen auf der Suche nach etwas Großem, Starkem und Intensivem, dass mir etwas in meinem Innen widerspiegeln sollte. Irgendetwas löste diese Maschine in mir aus. Es lässt sich nur schwer in Worte fassen und das möchte etwas bedeuten für einen Menschen, der mit Buchstabensträngen einschläft.
Es ist Donnerstag, der 10. August 2023. Zum zweiten Mal betrete ich das Nationalmuseum. Die kolumbianische Hauptstadt hat sich nach zwei Jahren Abwesenheit meinerseits verändert. Ein galizischer Granitstein mit der Pilgermuschel wurde auf dem Cerro de Monserrate angebracht, das Planetarium wurde renoviert, ein paar neue Fahrradwege wurden geschaffen, das gesellschaftliche Klima war etwas angespannter. Noch ein paar Wochen zuvor fuhr ich mit dem Southwest Chief Train von Hollywood aus bis nach New Mexico, bestieg den Mount San Antonio in Kalifornien oder umsorgte Kakteen mit Blick auf den Popocatépetl.
Inzwischen wusste ich von Nietzsches „Scrivekugel“, von der „Continental“ im Zeppelinmuseum in Friedrichshafen, von der „Erika“ im jüdischen Museum in Wien oder von einer „Blickensderfer 7“ in Mexiko-Stadt. Selbst eine „Smith-Corona Electric“ war im Zusammenhang mit einer kleinen Ausstellung des heimischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez in der Nationalbibliothek ausgestellt.
Einschub: „Meine Remington Rand oder der Tennisarm“
Zu Hause hatte ich Band II meiner Gedankentagebuch-Reihe nach „Am Ufer des Rio Urubamba saß ich und schrieb“ fertiggestellt. 1.146 Seiten geballte Schreibkunst sammelten sich also in „Meine Remington Rand oder der Tennisarm„.
Die Tuchfühlung
Recht lange liebäugelte ich mit einer „Olivetti Lettera“ 22 oder 32. Die 22 verwendet zum Beispiel Tom Ripley (freilich von Alain Delon gespielt) in „Nur die Sonne war Zeuge“. Er spannt ein Papier ein und fängt an die Buchstaben „Ma“ zu tippen. Leider ist dieser Filmmoment nicht annähernd so wertvoll wie Doktor Schiwago am Holzschreibtisch mit brennender Kerze, Tintenfass, Füllfederhalter und einem Stapel Briefpapier.
Auf dem Rückweg von Barcelona in der U6 von Stuttgart Flughafen bis ins Zentrum fiel am Freitag, den 19. Januar 2024 mein erster Blick auf den SSB Lyrik-Text auf der Decke mit der Überschrift „GEFÄHRDETE ARTEN“ der in etwa wie folgt lautete:
Mendesantilope, lebt in Wüstengebieten, es gibt noch ungefähr tausend.
Hai Jing (*2011) aus: https://banianerguotoukeyihe.com, März 2021. Copyright bei der Autorin. Übersetzung Martin Winter
Schneeleopard, lebt in Nepal und Umgebung, es gibt ein paar tausend.
Blauwal, lebt in vier Ozeanen, nur noch 3000-4000.
Schwarzes Nashorn, lebt in Malawi, nur noch 3610.
Anden-Puma, lebt in den Anden, vielleicht 2500.
Rotwolf, lebt in North Carolina, höchstens 220.
Philippinischer Wasserbüffel, lebt in Mindanao, zwischen 30 und 200.
Qi Haijing, lebt in Zhuhai in China, es gibt nur eine.
Mein zweiter Blick sah eine „Remington Mark II Sperry Rand“ und schickte ein Preisangebot ab. Mit ein paar zitronengelben Kochbananen, einem Packen orangefarbenem Maismehl und einem kastanienbraunen Brocken Panela im Jutebeutel merkte ich, wie mein Smartphone in der rechten Hosentasche vibrierte. Der Artikel gehörte mir.
Da hat es sich vermutlich gelohnt, dass ich nur ein paar Wochen zuvor in Quito 2.800 Meter über der Wasseroberfläche des pazifischen Ozeans die Fotos der Seite „Virtual Typewriter Museum“ herunterlud, mit Namen versah und in meinen Ordner „Dreams“ unter „Besondere Objekte“ und „Schreibgeräte“ schob.
Der Karton
Es ist ein Samstagabend im Mai um 21:49 Uhr. Ich könnte die Energie finden, den Karton zu öffnen. Immer noch steht er da. Welche Energie geht von ihm aus? Befindet sich tatsächlich eine Schreibmaschine darin? Was, wenn die oder der Zustellende einen schlechten Job gemacht hat, sie auf den Boden gefallen und nun defekt ist? Habe ich bei der Bestellung darauf geachtet, dass sie eine QWERTZ-Tastatur hat? Nennt man das überhaupt Tastatur oder einzig Tasten? Was wird mein erstes und was mein letztes Wort auf dieser „Remington Rand“ sein? Mein Großvater fertigte sein 152-seitiges „ZUMUTUNGEN“-Manuskript auf einer an – welches werde ich erschaffen? Ist es nicht lächerlich an einen Traum der größeren Sorte zu glauben? Gibt es noch das Gute auf dieser Welt? Welchen Ausdruck wird meine Liebe in Druckerschwärze finden? Warum fiel meine Wahl nicht auf eine „Gossen Tippa Pilot“, eine „Alba A4“, eine „Apex Super“, auf eine „Dial“, „Halberg“ oder gar eine „Robotron S 1001“? Werde ich am Ende des Tages reich für meine Bemühungen belohnt werden?
Der Karton no. 2 oder „Die Box“
Über 24 Stunden ist es nun her, dass ich den Karton in der Gegenwart meiner Schwester geöffnet habe. Tatsächlich habe ich bereits einen Blick auf die Schreibmaschine sowie auf die burgunderrote Samtverkleidung erhascht. Allerdings ist der Karton no. 2 nun wieder geschlossen. Ich habe noch kein Wort geschrieben, geschweige denn mich näher mit der Maschine vertraut gemacht.
Die erste Seite
Die erste Seite dauerte recht lange. Ich probierte auf die Tasten zu hauen, doch es funktionierte nicht. Ich war entmutigt, schloss die Box wieder und ließ die Schreibmaschine Schreibmaschine sein. Ein wenig tat sie mir leid. Sie hatte einen neuen Besitzer gefunden, doch der kümmerte sich nicht sonderlich viel um sie. Er dachte nach, er zweifelte, er fragte sich, ob es ein Gutes sei, sich näher mit dem obskuren Objekt der Begierde vertraut zu machen. Doch früher oder später fand er heraus, dass sich auf der linken Seite ein unscheinbarer silberner Hebel befindet, der dafür sorgt, dass die Maschine für den Transport fixiert ist.
Ich löste den Hebel und es gelang mir tatsächlich, die ersten Buchstaben zu schlagen. Das Wort Schreiben würde der Kraftanwendung tatsächlich nur bedingt gerecht werden. Inzwischen habe ich 21 Zeilen verfasst. Es fühlt sich merkwürdig an mit dieser Maschine umzugehen. Einerseits bin ich verdammt glücklich, dass wir uns im dritten Jahrtausend nach Christus nicht mehr in den Welten der Schreibmaschinen bewegen müssen – wenngleich ich es lustig fände auf digitale Nomaden mit Reiseschreibmaschinen und Papierstapeln zu treffen. Andererseits hat das ausgesprochen reduzierte Schreiben einen besonderen Reiz. Jeder einzelne Buchstabe, jedes Leerzeichen, jede Zeile ist ein kleines Abenteuer. Es geschieht nicht von alleine. Es verlangsamt den Prozess des Schreibens. Es bedarf Ausdauer, mehr körperlicher Energie und einen gut geschützten schalldichten Raum.
Alles schön und gut… wie lautet sie jedoch die erste Seite?
Die ersten sechs Zeilen der oben aufgeführten Seite sind von meiner Vorgängerin / meinem Vorgänger. Ich habe die folgenden sechs Zeilen in dem in der Mitte abgeschnittenen eingespannten DIN-A4-Papierblatt erschaffen. Die erste davon ist nicht sonderlich leserlich, die weiteren fünf lauten wie folgt:
„ich gehe heute auf eine geburtstagsfeier. wenn ich mit diesem text fertig / bin, dann werde ich lernen auf einer seilbahn als kontrolleur zu arbeiten. / in einem monat ist es juli. das glueck reist niemals inkognito. doch was wi / rd geschehen, wenn wir uns in einem jahr wieder sehen? es scheint mir ein / raetsel zu sein. wenn ich gut schreibe, dann wird sich alles fuegen…“
Wie es weitergeht?
In der Zwischenzeit hat in einem Ausstellungsraum über Paul Bowles im US-amerikanischen Gesandtschaftsmuseum in Tanger eine „Olivetti Lettera 32“ meinen Weg gekreuzt. Ich fand weitere Inspirationen an diesem Fleck inmitten der Katzen auf den Straßen und auf den Plätzen so wie auf dem jüdischen Friedhof.
In Zukunft werde ich das Schreibmaschinenmuseum in Partschins als auch das Montblanc-Museum an der Elbe in Hamburg besucht haben. Ich werde meine Idee einer Holzkonstruktion für den Gepäckträger meines Fahrrades für meine „Remington Rand“ – in Anlehnung an Alma M. Karlin – konkretisiert haben. Ich werde Nietzsches „Scrivekugel“ berührt und auf ihr geschrieben haben. Ich werde sieben Tage an einem ursprünglichen Platz inmitten der Natur ohne Strom mit meinem Meisterwerk verbracht und einen signifikant guten Text auf ihr produziert haben.
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